Ein Jahr in San Francisco
halte, sackt es auch schon nach unten. Es ist zu schwer und mir ist plötzlich auch überhaupt nicht mehr nach Lesen zumute, sondern nach Herumalbern.
„Dr. Roberts ist sofort bei dir“, gibt John mir zu verstehen. Er grinst so breit wie ein kleiner Affe und sieht total dämlich aus. Komplett zum Totlachen. Ich versuche, mich zu beruhigen, was mir jedoch nicht gelingt, und so bleibe ich einfach mit einem breiten Grinsen im Gesicht unter der Palme liegen und spüre die Schwere meines Körpers. Die weitere Behandlung zieht an mir vorbei wie ein Film, den Spritzeneinstich merke ich kaum, und auch Dr. Roberts registriere ich fast nicht. Nach gefühlten fünf Minuten ist alles vorbei. „So, das war’s schon. Der Backenzahn hatte Karies“, sagt John und nimmt den Schlauch von meiner Nase. Langsam nehme ich meine Umgebung wieder aktiv wahr und fahre mit der Zungenspitze über den Zahn. Schwer und müde erhebe ich mich. Mein Mund ist noch komplett taub. Draußen in der Mittagssonne auf der California Street rollt der Bus der Linie 1 an mir vorbei, während die Angestellten aus den umliegenden Geschäftsgebäuden lachend in ihre Mittagspausen gehen. Ich habe lediglich einen Zahnarztbesuch hinter mir, aber ich habe mich selten so stoned gefühlt.
Arztbesuche in den USA sind für mich eine komplett neue Erfahrung – und zwar im positiven wie im negativen Sinne. Die Praxen geben sich viel Mühe, dem Patienten den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen: Während der Wartezeit wurden mir Softdrinks und Kaffee angeboten, zur Lachgasbehandlung hätte ich zusätzlich Musik hören können, und beim Allgemeinmediziner, den ich wegen einer starken Erkältung aufsuchen musste, konnte ich mich im Wartezimmer mit Kuchen und Keksen vollstopfen. Die Schattenseite: Die heutige Kariesbehandlung kostet meine Versicherung und mich mehrere hundert Dollar, und mir erschienen die Ärzte wie Geschäftsmänner oder -frauen, die die Zeit im Sprechzimmer auch für Cross- und Upselling-Gespräche nutzen. Dr. Roberts wollte mir noch ein sogenanntes Bleaching aufquatschen, das meine Zähne „even more beautiful“ machen könnte, wie er sagte. Der Entscheidungsspielraum des Patienten ist dabei viel höher, in Deutschland hat mich noch kein Arzt gebeten, selbst zu entscheiden, ob ich das Medikament XY nun einnehmen möchte oder nicht.
„Wieso bist du so relaxt?“, fragt mich Vijay im Büro. „Alle anderen sind völlig aufgeregt wegen der großen Management-Präsentation.“ – „Falls du beim Zahnarzt auch schon einmal mit Lachgas behandelt worden bist, weißt du, wieso.“ – „That’s fun! Dann werde ich mir auch schon mal einen Prophylaxe-Termin geben lassen.“ Ich klicke durch meine Mails und summe vor mich hin. „Ach, übrigens, Alex, ein Kumpel, hat mir geschrieben. Er kennt sich sehr gut mit Webdesign aus und schlägt vor, dass wir uns mal unterhalten sollten.“ – „Stimmt. Von dem hattest du ja schon erzählt. Die Turteltaube?“, erinnert sich Vijay und ich überhöre seinen Kommentar. „Lust heute Abend mit ihm auf ein Bier im Toronado ? Er hat echt was drauf und wir müssen dringend mal ein Feedback von einem Webdesigner einholen.“ – „Klar, hört sich gut an. Da bin ich dabei.“
Und so treffen wir uns abends mit Alex im Stadtteil Lower Haight . Vijay freut sich vor allem aufs Bier. „Es ist das Tor zum Bierhimmel. Die Bar hat über hundert verschiedene Sorten im Angebot. Es gibt auch eine saisonale Auswahl, beispielsweise das nach Wassermelone schmeckende Hell or High Watermelon Wheat Bier .“ – „Wassermelonenbier kannst du mir als Deutscher nicht verkaufen!“ – „Es gibt auch genug deutsches Bier, keine Sorge. Es ist eine der hundert besten Bierbars in den USA.“
Auf einer großen, dunklen Tafel über der Theke sind, ähnlich den Zugabfahrtszeiten in einer Bahnhofshalle, die unterschiedlichen Bierangebote angeschrieben. Die Wände hat man vollständig mit Bieraufklebern aus aller Welt plakatiert,dazwischen erspähe ich immer wieder deutsche Biermarken wie Radeberger, Spatenbräu oder Schneider Edel-Weisse. Das sind zwar nicht unbedingt meine Favoriten, hier aber ein gern getrunkenes Stück Heimat. Weil alle Tische belegt sind, quetschen wir uns an die Bar unter die große Leuchtreklame des belgischen Biers Chimay , wo Alex schon auf uns wartet. Lautstark feiert eine Gruppe junger Männer am Tisch nebenan. Sie alle tragen das gleiche T-Shirt mit der Aufschrift einer Website, und hin und wieder
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