Ein Jahr in San Francisco

gedient, doch mittlerweile werden die alten Kasernengebäude von Familien und Yuppies bewohnt, die ein naturbelassenes und ruhiges Leben inmitten eines Nationalparks bevorzugen. Auf der Bühne rücken jetzt zwei Freiwillige die letzten Requisiten für die Shakespeare-Aufführung zurecht. Inzwischen ist es etwas abgekühlt, ich ziehe meinen Kapuzenpulli über den Kopf und kuschle mich in meinen dicken, flauschigen Schal. Gemeinsam machen wir es uns auf den zwei mitgebrachten Decken auf dem Waldboden bequem. „Das ist ja so was von romantisch hier“, flüstert Mari Carmen. Rose packt ihre Thermoskanne aus und reicht sie an uns weiter. Wenig später startet Othello. Während auf der Bühne das Schauspiel im feinsten britischen Englisch startet, schaue ich hoch in den Nachthimmel und atme tief die von Eukalyptus erfüllte Nachtluft ein. „T’is neither here nor there“, heißt es im vierten Akt treffend. Während ich zwischen meinen Freundinnen sitze und meine Finger an der warmen, mit Kakao gefüllten Thermoskanne wärme, werfen die gespenstisch-massiven Eukalyptusbäume ihren Schatten auf uns. Darüber funkelt der Sternenhimmel. Ganz weit weg kommt mir die Stadt vor. Als sich die heißen Getränke und Keksvorräte dem Ende nähern,schließt auch der letzte Akt, und Mari Carmen zieht es noch in die Stadt. „Kommt, lasst uns noch auf einen Drink ins Tosca Cafe gehen“, schlägt sie vor. „Chicas, seid nicht so lahm. Vielleicht sehen wir heute endlich einmal Sharon Stone“, versucht sie uns zu ködern. Genau, von Sharon Stone, die ganz dekadent im malerischen Sea Cliff wohnt, dem Prominentenviertel im Nordwesten von San Francisco, wird behauptet, dass sie häufiger im Tosca Cafe in North Beach anzutreffen ist und an der mit historischen Espressomaschinen geschmückten Bar einen Drink nimmt. Auch Filmgrößen wie Francis Coppola, Sean Penn, Robert DeNiro oder Bono besuchen das Tosca Cafe auf der Columbus Avenue angeblich gerne. „Na gut! Auf einen Drink noch“, willigt Rose ein, und wir werden doch schwach.
    „Leute, was wünscht ihr euch für einen Song?“, fragt Mari Carmen, nachdem wir im Tosca Cafe angekommen sind. „Sitting on the dock of the bay!“, rufe ich. Mari Carmen wirft ein paar Quarters in den Schlitz der roten Opern-Jukebox. Wenige Minuten später ertönt mein Song. „Kommt, lasst uns einen Tisch suchen“, schlägt Rose vor. Im selben Moment erblickt Mari Carmen eine rote Vierzigerjahre-Vinyl-Sitzecke, die noch frei ist. Wir bestellen heiße Schokolade mit Brandy und beobachten das bunt gemischte Publikum, was um uns herum lacht, redet und trinkt. Sharon Stone fehlt heute leider, trotzdem wird es ein lustiger Abend. Amüsiert lauschen Rose und ich den neuen Männergeschichten von Mari Carmen, die von spanischer Dramatik nur so triefen, während wir an unseren heißen Getränken nippen. Und plötzlich ist es schon halb zwei – nur noch dreißig Minuten bis zur Sperrstunde. Schon merkwürdig: Eisern werden um zwei Uhr alle Bordsteine hochgeklappt. Lediglich der Club EndUp hat bis morgens um elf Uhr geöffnet. Aber ehrlich gesagt, ich bin heute froh, an einem Samstagabend vor zwei Uhr im Bett zu sein, ich radele nach Hause. Ach ja, seit einigenMonaten habe ich wieder ein „neues“ altes Rad: ein aus alten Fahrradteilen selbst zusammengebautes Fahrrad aus der sogenannten „Fahrradküche“, dem Bike Kitchen in der Mission ; einer Fahrradwerkstatt, in der Freiwillige einem dabei helfen, Fahrräder komplett selbst zusammenzubasteln oder lediglich zu reparieren. Das wird mir so schnell keiner klauen!
    Zu Hause führt mich mein erster Weg an den Laptop. Nick wollte sich doch noch melden – er war die letzten Tage beruflich viel auf Reisen. Ich überfliege die sechzig Mails in meinem Posteingang. Spam. Werbung. Freunde. Family. Start-up. Nick:
    „Hi Hanni,
    sorry, dass ich mich noch nicht früher gemeldet habe. Ich bin wieder in San Francisco und war eben noch bei meinem Kumpel Mike. Er brauchte ein bisschen Beistand, denn ihm ist heute bei seinem Start-up gekündigt worden – ohne Vorankündigung. So kann es leider manchmal auch gehen. Wir arbeiten bei mydoc auf Hochtouren am neuen Produktlaunch – sehr viel zu tun. Hast du die nächsten Tage mal Zeit? Ich denke, dass wir reden sollten.
    Cheers, Nick
    P. S. Viel Erfolg bei der Fahrprüfung – mein Auto kannst du dir gerne leihen!“
    Mir ist egal, ob ich für die Prüfung sein Auto nehmen kann oder wie sein Start-up gerade läuft. Was ist