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Ein Jahr in San Francisco

Ein Jahr in San Francisco

Titel: Ein Jahr in San Francisco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanni Bayers
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du den Typ da drüben?“ Er zeigt in eine Seitenstraße, und ich muss ein paar Schritte zurückgehen. Jetzt sehe ich ihn auch. Auf einer Bank sitzt ein alter Herr, sein Arm über einen tintenblauen Rucksack gelehnt, der neben ihm auf der Bank steht. In der linken Hand hält er eine Dose Bier. Er ist splitterfasernackt, und sein fülliger Bauch verdeckt glücklicherweise die Körperteile, die ich den Lesern erspare. Keine fünf Meter entfernt ein Polizeiauto, aus dem in diesem Moment zwei Beamte aussteigen und auf den Mann zugehen, der sich genießerisch die Sonne auf den Pelz scheinen lässt! „O Mann – der Typ soll sich etwas anziehen. Das ist ja widerlich“, entfährt es mir. „Öffentliche Nacktheit ist in San Francisco doch erlaubt. Du musst dich lediglich an das neue Gesetz halten.“ – „Und das lautet wie?“ – „Na ja, es besagt, dass Nudisten zwischen ihren Hintern und den öffentlichen Stuhl oder die Bank ein Handtuch legen müssen.“ Einer der Polizisten geht auf den nackten Mann zu, spricht mit ihm und entfernt sich dann wieder – in der Hand die Bierdose des Herrn. „Siehst du, lediglich öffentliches Trinken ist untersagt. Hätte der Typ eine braune Papiertüte gehabt, wäre es wahrscheinlich nicht so wild gewesen“, lacht Alex. Ich schüttele nur den Kopf. „Crazy!“ – „Jetzt tu mal nicht so. Oft sind hier doch noch viel mehr Nackte auf der Straße. Erst vor ein paar Wochen wurde unter dem Namen World Naked Bike Ride gegen die amerikanische Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen demonstriert. Dabei fuhren Hunderte nackter Fahrradfahrer – teilweise nur mit einem Helm bekleidet – die großen Hauptstraßen in San Francisco entlang. Gerade ihr Deutschen seid doch normalerweise so offen und habt so viele Nacktbadestrände“, kontert Alex, und mir fällt nichts mehr ein, außer schmunzelnd den Kopf zu schütteln.
    Manchmal fürchte ich, in dieser Stadt der Gegensätze verrückt zu werden und die Messlatte für Normalität neu ansetzen zu müssen. In Gesellschaft auf der Straße nackt herumzulungern ist okay, ein Bierchen im Park mit Freunden jedoch nicht. Mein verblüfftes Gesicht lässt Alex fortfahren: „Du wirst staunen, hier gibt es noch viel kuriosere Vorschriften. So verbietet es das kalifornische Gesetz, mit benutzter Unterwäsche sein Auto zu putzen, doch entblößt auf der Straße Twister zu spielen ist völlig legitim“, berichtet er lachend. Und weiter: Per Gesetz sei es kalifornischen Frauen untersagt, im Morgenmantel Auto zu fahren. Dafür sei es aber vollkommen rechtschaffen, sich bei der Folsom Street Fair gegenseitig auf der Straße auszupeitschen. Auch der Umgang mit Tieren sei per Gesetz geregelt: In San Francisco dürfen weder Elefanten die Market Street entlangflanieren (es sei denn, sie sind angeleint), noch dürfen Pferdeäpfel an Straßenecken höher als 1,82 Meter aufgetürmt werden. Bei all der Toleranz und Freiheit weiß San Francisco einfach nicht genau, wo es mit Regeln und Auflagen aufhören soll. „Zum Glück bleiben wir heute zumindest von den nackten Radlern verschont. Schön, dass du dir die Zeit zum Lunchen genommen hast“, verabschiede ich mich von Alex und gehe weiter zu unserem Office.
    Ein paar Tage später. Als ich gerade damit beschäftigt bin, mein Zimmer zu putzen, erhalte ich eine SMS von Mari Carmen: „Super Wetter – Lust auf Shakespeare in the Park heute Abend mit Rose und mir?“ Eigentlich wollte ich noch etwas arbeiten, aber zu dem Freilichttheater mitten im nächtlichen Presidio- Park, einem Nationalpark im Norden von San Francisco, wollte ich immer schon einmal. „Ja, gerne, bin dabei. Ich bringe Decken und ein paar warme Getränke mit“, texte ich zurück und beende meine Putzaktion im Eiltempo, um noch Getränke einzukaufen. „Na, schon wieder so busy ,dass du keine Zeit zum Putzen hast?“, merkt Charles feixend an, als ich im Flur über den Staubsauger hüpfe und nach meiner Jacke greife. Charles konnte mich immer noch nicht davon überzeugen, dass es sich lohnt, 200 Dollar im Monat für die Dienste einer cleaning lady auszugeben. Immer wieder spricht er das Thema an. „Ich muss nur ganz schnell was einkaufen. Keine Sorge, ich räume nachher alles weg!“, rufe ich. Bevor er widersprechen kann, ziehe ich schnell die Tür ins Schloss.
    Als wir am frühen Abend am Freilichttheater auf der Waldbühne im Presidio ankommen, ist es bereits dunkel. Früher hat das Parkgelände von Presidio lange Zeit Militärzwecken

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