Ein Jahr in San Francisco
gerade so treibst.“
Es ist nicht zu leugnen: Die dichte Dunstschicht ist ein natürliches Wunder und besser als alle Spezialeffekte aus Hollywood: Das kalte Wasser aus den Tiefen des Pazifiks mischt sich mit der feuchten, warmen Luft des Festlandes. Dabei entsteht das weiße Wechselspiel der Elemente. „Unser deutsches Jahreszeitenmodell ist in San Francisco außer Kraft gesetzt. Manchmal hat hier ein einziger Tag gefühlte vier Jahreszeiten“, sage ich. Immerhin, das Wetter ist ein dankbareres Thema als Nick. Am frühen Morgen liegt die gesamte Stadt in einem grauen Kissen. Mit dem Nebel ist es kalt, windig, und das Licht der Stadt wirkt gespenstisch und fahl, wie an einem düsteren, deutschen Herbst- oder Winternachmittag. Ich starre auf die Bucht vor mir. Doch plötzlichgegen Mittag werden die dunklen Jahreszeiten vom Frühling oder Sommer abgelöst. Dann ist auf einmal nur noch ein Teil der Golden Gate Bridge verhüllt, und dazwischen blinzelt das heitere Blau des kalifornischen Himmels hervor. Warte ich noch ein bisschen länger – oft nur wenige Minuten später reißt der Himmel vollständig auf, der Nebel verschwindet und die Menschen sitzen wieder in der Sonne vor den Cafés in North Beach und Nob Hill . So wie ich es ab und an mit Nick getan habe.
Plötzlich spüre ich Roses Hand auf meinem Arm. „Du lenkst die ganze Zeit ab, Hanni. Was hat er denn jetzt gesagt?“ Ihr beiläufiger Tonfall kann mich nicht täuschen, sie versucht, ihre Neugierde zu unterdrücken. „Tja, er war gestern Abend bei mir und wir haben geredet.“ – „Und?“ – „Er sagte, dass er sich immer gewundert hat, warum ich alles zwischen uns so ernst genommen und nie die Frage gestellt habe.“ – „O nein, lass mich raten: Die ‚Are-we-exclusive‘-Frage?“ – „Ja. Rose, du kannst dir nicht vorstellen, wie bloßgestellt ich mich gefühlt habe.“ Ich weiche ihrem Blick aus, damit sie die Tränen nicht sieht. „Diese verdammt komplizierte Dating-Systematik! Woher in aller Welt hätte ich bitte wissen sollen, dass ich als Frau angehalten bin, irgendwann diese Frage zu stellen?!“ – „Es muss nicht immer ‚sie‘ die Frage stellen, ob es möglicherweise noch andere Dating-Kandidaten gibt. Na ja, aber in der Regel ist es leider doch meistens so, denn die Männer versuchen, sich scheinbar möglichst lang alles offenzuhalten.“ – „Rose, ich gehe mit diesem Typen seit Ende Februar regelmäßig aus, und er will mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass wir nie zusammen waren; dass wir lediglich ‚gedatet‘ haben! Ich check es einfach nicht, ehrlich.“
Ich könnte schreien, den Redwood-Baum aus dem Boden reißen oder rennen, bis ich umfalle, so wütend bin ich. Doch Rose ist immer so beherrscht und abgeklärt, dass ichversuche, meine Wut lieber herunterzuschlucken. „Weißt du, in Deutschland ist diese ganze Beziehungssache irgendwie unkomplizierter und einfacher. Dieses dumme Dating, das es einem erlaubt, auch noch andere Menschen zu treffen, solange es nicht ‚exclusive‘ ist, das ist doch absurd. Sein dummes Gerede, von wegen ich sei natürlich ‚amazing‘ und ‚fun to hang out with‘, hätte sich der Idiot echt sparen können …“ – „Vielleicht hat er auch einfach eine Liebesangst, sozusagen eine Amoraphobia“, erwidert Rose und will mich aufheitern, doch innerlich zermürbt mich die Vorstellung, dass er womöglich die ganzen letzten Monate noch andere Mädchen „gedatet“ hat. All die Begründungen, die ich mir selbst in den letzten Wochen zurechtgeschustert hatte, um mir zu erklären, warum er immer wieder distanziert war und keine Zeit hatte, brechen in sich zusammen wie ein sorgsam gebautes Kartenhaus. „Er hat doch gar nicht explizit gesagt, dass da noch andere Frauen sind“, versucht Rose, mich zu trösten. „Ach, Rose, komm. Das glaubst du doch selbst nicht! Selbst Sophia hat doch immer gesagt: Don’t put all your eggs in one basket. Vielleicht hätte ich mich da auch mal dran halten sollen.“ – „Ich glaube, dass die Männer einfach Angst haben, dass sie eingelocht werden, sobald die Checkliste zum husband material , also dem geeigneten Ehemann, überall ein Häkchen hat“, meint Rose, und ich versichere ihr, dass ich das ganz bestimmt nicht vorgehabt hatte.
„In San Francisco kommt erschwerend hinzu, dass Sex offen und frei diskutiert wird und die Bay Area den Ruf einer polygam-experimentierfreudigen Stadt und einer aktiven Swinger-Szene besitzt. Da fällt es den
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