Ein Jahr in San Francisco
was mir etwas Mut macht. Der Prüfer entdeckt nun die ersten drei Fehler und macht dicke, blaue Striche auf meinen Bogen. „Miss?“ Er schaut mich fragend an. „Sie haben fünf von sechs Fehlerpunkten und damit gerade noch bestanden.“ Perfekt – das reicht mir allemal. Er hält mir einen Zettel hin, auf dem eine vorläufige Führerscheinnummer steht und mit der ich bis zum offiziellen Prüfungstermin bereits schon Auto fahren darf. Freudestrahlend und stolz verlasse ich das Gebäude des DMV, undin mir steigt das Gefühl auf, dass ich mit dem Erwerb dieser Nummer wieder ein kleines Stückchen mehr heimisch geworden bin. Wenn ich noch die praktische Prüfung in ein paar Wochen bestehe, dann steht spektakulären Kalifornien-Roadtrips nichts mehr im Wege.
Ein paar Tage nach der Theorieprüfung bin ich mittags mit Nick in SoMa zum Essen verabredet. Ich habe mir extra ein kleines gemütliches Café von Sophia empfehlen lassen: The Butler and The Chef . Ich will endlich mit Nick reden und habe keine Lust mehr auf diese seltsamen Spielchen, die schon seit Wochen nicht enden wollen. Doch gegen zehn Uhr, ich bin gerade in einem Meeting, schreibt mir Nick eine SMS: „Hanni, I am sorry. I can’t make it. I had some changes in my schedule.“ Wie soll ich aus Nick nur schlau werden? Manchmal meldet er sich mehrere Tage nicht, nur um mich dann innerhalb eines einzigen Abends mit einer Lawine von SMS zu überschütten. Dann sehen wir uns fast jeden Tag, und alles ist gut, bis er wieder für einige Tage untertaucht: im Job, beim Klettern, mit seinen Kumpels. Ich verstehe ihn einfach nicht.
Zum Glück springt Alex ein, der sich gerne die Mittagspause für mich freischaufelt. Sein Designbüro hat er unweit von Nicks Start-up am South Park, einer kleinen verschlafenen Grünanlage, versteckt inmitten der Fabrik- und Lagerhallenatmosphäre von SoMa . „He is such a flake“, mache ich meinem Ärger über Nicks Unzuverlässigkeit Luft und knabbere missmutig an meinem Sandwich. „Chérie, er ist es überhaupt nicht wert, dass du böse bist“, antwortet Alex mit seinem französischen Akzent und schlägt die Beine so energisch übereinander, dass sein Stuhl quietschend ein Stückchen verrutscht. „Wahrscheinlich meint das Schicksal es heute mit uns beiden nicht gut.“ Alex tippt auf seinem Handy herum. „Wieso?“ – „Have a look“, sagt er und hält mir sein iPhone unter die Nase. Vor mir blinken rosa Sternchenund ein lilafarbener Text. Ein Horoskop für homosexuelle Jungfrauen flimmert mir entgegen. Ich weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll. „Anscheinend schlechte Karten für dein Liebesleben“, kommentiere ich den Inhalt der Zeilen. „Ach, schrecklich. Letzte Woche hat mich mein Horoskop auch schon im Regen stehen gelassen“, sagt Alex und wirft mir einen verzweifelten Blick zu. „Du glaubst diesen Quatsch doch nicht etwa, oder?“ – „Ich glaube sonst an nichts, doch daran schon“, gibt er zu und zerknüllt das Papier von seinem Sandwich. „Alex, das ist doch verrückt – als ob dein Sexualleben von den Sternen beeinflusst würde“, sage ich. „Komm schon, zumindest glaube ich nicht an UFOs oder so etwas“, entrüstet er sich. An UFOs zu glauben ist in San Francisco noch gar nicht einmal so abwegig. Schließlich gibt es eine UFO-Messe, und das Bay-Area-UFO-Fest erklärt die Ursprünge außerirdischer Wesen. Falls man zwischenzeitlich zur Erleuchtung kommen sollte und ein UFO erspäht, kann man dies direkt über die Website melden. Angeblich wurde die UFO-Religion von Allen Michael begründet. Zuvor war er Besitzer eines veganen Restaurants und einer Tantra-Sex-Schule, doch mittler-weile sieht er sich als Sprachrohr zur Galaxie. Vor dem Hintergrund der UFO-Religion erscheint mir Alex mit seinem Gay-Horoskop dann doch wieder einigermaßen normal.
Nach dem Mittagessen laufen wir noch eine Runde um den kleinen Park. „Dieser Park ist ein Geheimtipp. Total entspannt hier. Da hat Nick jetzt echt was verpasst“, stelle ich zufrieden fest, gleichzeitig wissend, dass er wahrscheinlich diesen Park schon einige Male vor mir besucht hatte und er derjenige gewesen wäre, der mir diesen Tipp wieder ganz schlau vermittelt hätte. Ach, dieser Idiot! Hätte mir nämlich Sophia nicht das französische Bistro empfohlen, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich im Lagerhallen-Viertel SoMa auch nur einen einzigen Baum finden würde.Alex ist stehen geblieben. „Hey, was ist los?“, frage ich. „Siehst
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