Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Keinem wird irgendetwas zustoßen. Wir können alle halbe Stunde anrufen, um sicherzugehen. Aber es ist unser sechzehnter Hochzeitstag, und ich möchte meine Frau gern ausführen, um das zu feiern, in Ordnung?«
Mum sieht ihn an und lächelt endlich. »Okay«, sagt sie. Dann küsst sie ihn kurz auf die Wange und macht sich aus seinem Arm frei, um die Getränke einzuschenken.
Dad kommt zurück ins Wohnzimmer, und wir setzen uns zusammen aufs Sofa.
»Was hat sie denn?«, flüstere ich.
»Wie meinst du das?«
»Warum ist sie so? Mum ist doch nie launisch.«
Dad fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Auf welchem Planeten lebst du eigentlich, Jenny? Hast du das letzte Jahr verpasst?«
»Gute Frage«, sage ich leise.
»Was?«
Ich schüttle den Kopf. »Nichts.«
»Du weißt, dass die ganze Geschichte mit Mikey sie immer noch sehr belastet«, fährt Dad fort. »Sie braucht eben etwas Zeit, um zur Normalität zurückzufinden.«
Hmm. Geht uns das nicht allen so? Ich küsse Theas weichen kleinen Kopf und halte sie Dad hin. »Ich geh noch mal weg, okay?«
»Muss das sein? Du bist doch gerade erst zurückgekommen«, sagt er, nimmt Thea und schmust mit ihr.
Ich lasse den Blick über die anderen gleiten, und auf einmal halte ich es nicht mehr aus – nichts von all dem. »Ja, ich muss«, sage ich.
»Kann ich mit?«, fragt Craig sofort und löst sich zum ersten Mal von der Mattscheibe, seit er hereingekommen ist.
»Nein.« Ich muss für mich sein. Zu viele Fragen bestürmen mich, um mich auch noch um Craig zu kümmern.
»Sei aber in spätestens einer Stunde zurück, ja?«, ruft Dad mir nach. »Ich möchte, dass wir noch alle zusammen sind, ehe Mum und ich essen gehen.«
»Kein Problem«, sage ich und entfliehe.
Mir dreht sich der Kopf, als ich ziellos den Weg entlanglaufe. Ich suche die ganze Zeit nach Veränderungen. Ich bin sicher, dass dort ein Baum fehlt – und war der blaue Schuppen da drüben heute Morgen nicht grün? Alles ist so vertraut und doch so anders. Einfach unheimlich.
Automatisch gehe ich auf Julis Anlage zu. Aber vor ihrem neuen Apartment mache ich halt. Nein, ich schaffe es nicht. Ich kann sie nicht noch mal besuchen. Dort wäre es nur noch schlimmer als bei uns.
Ich brauche irgendeine logische Erklärung. Etwas, das mir hilft, herauszufinden, wo mein Leben abgeblieben ist. Aber so etwas gibt es wohl nicht, ich habe keine Ahnung, wohin ich gehen könnte. Ich bin total allein und verloren in einer Welt, die nicht mein Leben ist.
Halt mal.
Wer hat das gesagt? Jemand hat fast genau so etwas gesagt – da bin ich sicher.
Ein Frösteln durchläuft mich vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, und ich glaube, ich weiß, wer das war. Die Frau einen Stock höher, in Julis alter Wohnung. Ich kann mich noch genau an die Worte erinnern, weil sie so seltsam waren.
Keiner weiß es – keiner hat es je mitbekommen. Nur ich. Nur ich weiß, dass etwas verlorenging.
Genauso fühle ich mich auch!
Hat sie … könnte sie … Ist es möglich, dass sie etwas weiß?
Eines ist sicher – von anderswo bekomme ich keine Antworten. Wenn die Chance besteht, dass sie helfen kann, muss ich es versuchen und sie fragen.
Und ehe ich mir das wieder ausreden kann, bin ich schon in dem Gebäude und nehme den Aufzug in Julis alte Wohnung. Den normalen Aufzug diesmal. Der alte Fahrstuhl daneben ist geschlossen und stumm.
»Ich möchte nur ganz kurz mit Ihnen reden«, sage ich schnell, ehe die Frau mir sagen kann, dass ich verschwinden soll.
Sie hält die Tür fest, versteckt sich fast dahinter und guckt nur vorsichtig hervor.
»Ich muss eine Erklärung finden«, sage ich. »Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Warum?«, fragt sie misstrauisch. »Wie sollte ich dir wohl helfen können? Du willst dich wohl wieder über mich lustig machen, oder?«
»Nein! Bestimmt nicht, versprochen.« Ich sehe, dass sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen will – und ein Teil von mir will schon aufgeben. Aber ein anderer Teil – ein neuer Teil, ein Teil von mir, den ich nicht mal kenne – meldet sich sehr bestimmt zu Wort. »Machen Sie die Tür nicht zu. Bitte. Ich muss mit jemandem reden.«
Sie sieht mich lange und mit forschendem Blick und zusammengekniffenen Augen an, als ob sie mich mit einem Lügendetektor scannen will.
»Na gut«, sagt sie schließlich. Sie macht die Tür weiter auf und fügt hinzu: »Ich gebe dir fünf Minuten.«
Ich folge ihr in die Wohnung.
»Ich würde dir ja was zu trinken anbieten, aber
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