Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
Welt habe ich das letzte Jahr ja mit ihr verbracht. Ich sollte wissen, was los ist. Aber wie soll ich herausfinden, was los ist, ohne den Versuch zu machen, ihr zu erzählen, was mit mir passiert ist? Ich nehme nicht an, dass sie in der Verfassung ist, mir zu glauben. Warum sollte sie auch? Ich kann es ja selbst noch kaum glauben. »Besser als am Anfang«, sage ich schließlich.
»Ja, ist es nicht verrückt? Es ist zwei Monate her, und sie sind immer noch wild entschlossen, sich daran zu klammern.«
»Zwei Monate? Was ist zwei Monate her?« Was ist denn noch passiert?
»Du weißt schon, die Geschichte mit seinen Augen.«
»Mit seinen Augen?«, frage ich, ehe ich mich beherrschen kann.
Juli sieht mich an. »Dass er sie am Tag aufschlägt und nachts zumacht.«
Kann man das, wenn man im Koma liegt? Bedeutet das, dass es ihm besser geht?
Juli fährt fort, ehe ich mir auch nur überlegen kann, wie ich reagieren soll. »Vier Mal hat er das gemacht – dann nicht mehr. Gleich danach haben die Ärzte gesagt, dass das nichts zu bedeuten hat. Nur ein Reflex, nichts, das auf eine Verbesserung seines Zustandes hinweist. Und ich weiß nicht, wie oft sie es seither versichert haben. Aber Mum und Dad hören nicht darauf. Für sie ist nur wichtig, dass er die Augen aufgeschlagen hat. Sie sind überzeugt davon, dass es etwas zu bedeuten hat. Sie glauben mit aller Macht daran, dass es nur eine Sache der Zeit ist. Und rechnen Tag für Tag damit, wieder einen auf glückliche Familie machen zu können.«
Julis Stimme ist so brüchig, dass sie fast schon beim Aussprechen der Wörter versagt.
»Aber das ist doch kein schlechtes Zeichen, oder?«, frage ich so sanft wie möglich. »Es ist doch gut, sich an eine Hoffnung zu klammern, nicht?«
Juli schnaubt und schüttelt den Kopf. »Wenn du das glaubst, bist du ja genauso schlimm wie sie.«
»Warum?«
»Es ist eine Illusion«, fährt sie mich an. »Kindischer, unrealistischer Unsinn, den sich alle einreden, nur, damit sie sich besser fühlen. Und völlig sinnlos, idiotisch und dumm.«
Julis Ausbruch fährt mir so in die Knochen, dass ich nicht nur nicht weiß, wie ich reagieren soll – ich habe keinerlei Ahnung, was ich überhaupt machen kann. Ich merke, dass ich sie mit offenem Mund anstarre. Ich fühle mich, als ob sie mir gerade eine Schrotladung ins Gesicht gefeuert hat. Wo kommt denn nur diese ganze wütende Verzweiflung her?
»Ich habe die Nase voll davon, dass jeder so tut, als ob alles gut wird. Gestrichen voll. Begreifst du das nicht?«
Wie soll ich es begreifen? Ich verstehe ja nicht einmal, was mit meinem eigenen Leben passiert. Wie kann ich auch nur im Ansatz verstehen, was bei ihr los ist?
»Juli, ich weiß nicht, was hier passiert ist«, sage ich.
»Was? Du meinst, dass du die ganzen letzten zwei Jahre nicht mit mir miterlebt hast, dass du nicht mitbekommen hast, wie sich meine Eltern allmählich in die Überzeugung reingesteigert haben, dass alles gut wird – obwohl das doch ganz offensichtlich nicht der Fall ist?«
»Zufällig ist das genau das, was ich dir sagen will«, stammele ich. »Ich war nicht hier. Das alles habe ich nicht miterlebt!« Ich merke, wie ich jetzt auch sauer werde. Es ist nicht fair, dass sie so wütend auf mich wird. Ich weiß schließlich nicht, was los ist! Ich muss ihr die Wahrheit sagen. Es geht um Juli und mich. Wir erzählen uns doch alles . Und was habe ich schon zu verlieren?
»Hör mal, erinnerst du dich daran, wie ich dir erzählt habe, dass mir ein Jahr fehlt?«, sage ich.
»Hmm, lass mich mal überlegen. Du willst wissen, ob ich mich daran erinnere, wie du letztes Jahr um diese Zeit versucht hast, mir irgendeinen Unsinn einzureden?«, fährt sie auf. »Ja, vielen Dank. Und falls du vorhast, das wieder zu versuchen, verschwende bitte nicht deine Zeit; kein Interesse.«
»Ich will dir keinen Unsinn einreden; es hat alles gestimmt!«
»Aber sicher. Ach, schau mal«, sagt Juli und deutet aus dem Fenster. »Siehst du das Schwein, das da durch die Luft fliegt?«
Sie muss mir einfach glauben. Ich halte es nicht aus, in dieser vertrackten Situation zu stecken, ohne dass sie etwas davon weiß.
»Ich weiß inzwischen, wie es passiert ist«, sage ich und übergehe ihren Sarkasmus. »Es ist der Fahrstuhl. Er hat mich ein Jahr in die Zukunft transportiert, in dieselbe Woche, nur ein Jahr weiter. In die siebenundzwanzigste Woche, gleiches Datum, gleiche Tageszeit. Er fährt einen nicht nur eine Etage höher. Diesmal bin ich in
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