Ein Jahr voller Wunder
Kopf«, ergänzte sie.
Gabby tippte eine Antwort in das Handy. Der schwarze Lack auf ihren Fingernägeln blitzte im Licht der Lampe. Dann nahm sie die Schere und fuhr mit dem Schneiden fort, die Haarsträhnen sammelten sich auf dem cremefarbenen Teppich neben ihrer zerknitterten Schuluniform.
Für den Rest benutzte sie den Elektrorasierer ihres Vaters. Nach und nach kam die Architektur ihres Schädels zum Vorschein, die uralten Wölbungen und Vertiefungen.
»Ach du Scheiße«, sagte sie, als sie in den Spiegel sah. »Das ist ja der Hammer.«
Sie drehte den Kopf von rechts nach links und strich mit den Fingern über die Stoppeln. Sie sah aus wie von Krankheit oder Behandlung schwer gezeichnet.
Sie setzte sich aufs Bett. Ein schwarzer Spitzen-BH mit passendem Slip lag auf der Decke ausgebreitet. Sie bemerkte, dass ich die Sachen ansah.
»Gefällt dir das?«, fragte sie.
»Ja, schon«, sagte ich.
»Das hab ich im Internet bestellt.«
Eine der Kerzen auf ihrer Kommode war zu einer Wachspfütze zerschmolzen. Die Flamme flackerte und erlosch dann in einem dünnen weißen Rauchwölkchen.
»Hey«, wechselte sie plötzlich das Thema. »Hat deine Mutter wirklich an Silvester einen umgebracht?«
Ich sah sie an.
»Wir wissen nicht, ob er gestorben ist.«
Unten ließen die Handwerker etwas Schweres auf die Fliesen fallen.
»Ich hab gehört, sie hat jemanden überfahren.«
»Sie ist krank«, sagte ich.
Gabby drehte sich zu mir um.
»Was hat sie denn?«
»Wissen wir nicht.«
»Kann sie daran sterben?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Mist«, sagte sie. »Das tut mir leid.«
Gabby hatte vor kurzem ihr Zimmer in einem tiefen Kastanienbraun gestrichen, und man roch immer noch die Farbdämpfe in der Luft, die sich mit dem Vanilleduft der Kerzen mischten.
»Ich geh besser mal nach Hause«, sagte ich.
»Hier.« Gabby gab mir eine Plastiktüte, die prallgefüllt mit Haarspangen und Klammern war. »Nimm die mit. Ich kann sie nicht mehr brauchen.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte ihre Sachen nicht.
Draußen näherten sich Scheinwerfer, als ich nach Hause ging, ein schnittiger schwarzer BMW, der Gabbys Mutter gehörte. Im Vorbeifahren winkte sie mir zu, und ich winkte zurück. Ich sah ihr nach, als sie in die Einfahrt bog und wartete, bis das elektrische Garagentor auf seinen Schienen nach oben rumpelte. Ich wusste, das waren die letzten Minuten, ehe gewisse Konsequenzen auf Gabbys rasierten Kopf niedergehen würden. Der BMW glitt in die Garage. Das Tor rollte hinter dem Wagen wieder nach unten. Ich hörte den Motor ausgehen, das erste leise Knacken beim Abkühlen.
Später würde ich erfahren, dass Gabby auf der Stelle die Benutzung ihres Computers und ihres Handys verboten wurde, wodurch sie nicht mehr mit dem Jungen in Circadia kommunizieren konnte, der ihr Gedichte schrieb.
An jenem Abend beobachtete ich stundenlang Sylvias Haus durch mein Teleskop, um einen Blick auf meinen Vater zu erhaschen. Sylvias Gewohnheiten waren mit zunehmender Dauer der Tage immer absonderlicher geworden. Während jeder Dunkelheitsphase verschwand sie im Haus, und wenn die Fenster der Nachbarn den ganzen Tag erleuchtet waren, blieben ihre schwarz, als hätte sie gelernt, zwanzig Stunden oder mehr am Stück zu schlafen. Ein Fremder, der an einem dunklen Nachmittag an Sylvias Einfahrt vorbeiginge, hätte glauben können, das Haus wäre leer oder die Eigentümer verreist. Es landeten oft zwei Zeitungen vor ihrer Tür, ehe die Sonne wieder aufging.
Aber in weißen Nächten erwachte Sylvia wieder zum Leben. Dann sah ich ihre schlanken Finger, lange nachdem die Nachbarn ins Bett gegangen waren, über die Klaviertasten gleiten. Sie jätete um Mitternacht Unkraut. Sie ging joggen, während wir anderen unsere Träume träumten. In der Stille einer weißen Nacht sah ich sie ihren Weihnachtsbaum im Sonnenschein auf den Bürgersteig schleppen, das Schleifen des Topfes auf dem Asphalt das einzige Geräusch in der schlafenden Straße.
In einigen Ländern Europas war es mehr oder weniger illegal, zu leben wie Sylvia. Auf diesem Kontinent waren die Echtzeiter überwiegend Einwanderer aus Nordafrika und dem Mittleren Osten, die sich aus religiösen Gründen nicht nach der Uhr richteten. In Paris waren Ausgangssperren verhängt worden. Ausschreitungen folgten. Ein Mitglied unseres Stadtrats hatte ein ähnliches Verbot vorgeschlagen. Eine Ortschaft in der Nähe hatte es sogar geschafft, eine Ausgangssperre zu verabschieden, aber sie wurde bald
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