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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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vom Gericht wieder aufgehoben.
    In derselben Woche fiel in gewissen Häusern unserer Straße der Strom aus. Fernseher wurden schwarz. Waschmaschinen kamen surrend zum Stillstand. Aus den Lautsprechern drang keine Musik mehr, und die Lampen über den Esstischen erloschen. Doch der Schaden beschränkte sich auf lediglich drei Häuser: das der Kaplans, das von Tom und Carlotta und das von Sylvia. Es war kein Zufall. Man hatte es auf die Echtzeiter abgesehen gehabt. Jemand hatte die Leitungen durchgeschnitten.
    Zwei Polizisten tauchten auf, um die Spuren an den Kabeln zu untersuchen. Sie befragten die Nachbarn. Niemand hatte etwas gesehen. Es dauerte sechs Stunden, bis das Elektrizitätswerk die Echtzeiter wieder ans Netz angeschlossen hatte. Die Täter wurden nie gefasst.

19
    I n der Schule sezierten wir Frösche, übten Dauerlauf, ließen unsere Wirbelsäulen auf Skoliose untersuchen. Die Fußballsaison zog sich wegen der ganzen im Herbst abgesagten Spiele bis in den Januar hinein. Aber ich hatte das Interesse an dem Sport verloren. Was sollte das noch? Welche Rolle spielte es?
    »Aber du magst doch Fußball?«, sagte mein Vater, als ich eines Tages auf dem Weg zum Training im Auto schmollte. Er hatte seinen Dienstplan geändert, um mich fahren zu können, solange meine Mutter krank war.
    »Woher willst du wissen, ob ich es mag oder nicht?«, fragte ich.
    Er drehte sich zu mir um. Sonst redete ich nie so mit ihm, und er wirkte überrascht. Der Himmel draußen hatte ein feuriges Orange angenommen, ein Sonnenaufgang am Spätnachmittag.
    »Was ist mit dir in letzter Zeit los?«, fragte er.
    Er sah müde aus. Sein hellbraunes Haar begann, sich an den Rändern zu lichten. Seit dem Morgen war eine Schicht Bartstoppeln auf seinem Kinn gewachsen. Ich fragte mich, ob er ahnte, dass ich wusste, was er mit Sylvia machte.
    »Nichts«, gab ich zurück. »Ich will nur einfach nicht mehr spielen.«
    Mein Vater antwortete nicht. Wir fuhren weiter auf den Fußballplatz zu.
    Von jenen Nachmittagen auf dem Rasen erinnere ich mich vor allem an die Momente, wenn die Jungenmannschaft an uns vorbeitrabte. Meistens entdeckte ich sie von weitem und suchte unter ihnen nach Seth. Wir hörten die Jungs keuchen, wenn sie näher kamen, das synchrone Klackern ihrer Stollen auf dem Asphalt. Wir rochen den Schweiß ihrer Trikots. Seth lief immer ziemlich weit vorne am Rande der Gruppe, und er sah nie in unsere Richtung. Die Blicke aller anderen fielen immer auf Michaela – und sie nahm die Aufmerksamkeit mit einem breiten Lächeln entgegen. Ich begriff nie, woher sie wusste, was die Jungs wollten. Im Gegensatz zu ihr vermied ich größtenteils, sie anzusehen, solange sie in der Nähe waren, bis ihre Schritte leiser wurden und schließlich verstummten, wenn sie den Feldweg am Rand des Platzes erreichten. Dann warf ich einen letzten Blick auf Seth, bevor er und all die anderen Jungs zwischen den Eukalyptusbäumen verschwanden, die unseren Platz von ihrem trennten.
    Wir kamen am Parkplatz an, und mein Vater hielt am Bordstein.
    »Hör mal«, sagte er. »Du hörst nicht mit dem Fußball auf.«
    Langsam stieg ich aus dem Auto, die Sporttasche schwang an meiner Schulter. Ich knallte die Tür zu.
    Der Parkplatz war weit vom Spielfeld entfernt, und ich ging so langsam wie möglich. In der Ferne konnte ich Hannas dünne Silhouette auf dem Platz erkennen. Es war schrecklich für mich, dass unsere alte Vertrautheit immer noch über uns hing wie ein Gestank, uneingestanden, aber dennoch hartnäckig in der Luft schwebend.
    Eine Idee huschte mir durch den Kopf: Ich musste nicht zum Training – ich konnte einfach weggehen.
    Mein Vater war inzwischen losgefahren. Sonst war niemand in der Nähe.
    Vielleicht beeinflusste die Verlangsamung auch meine Empfindungen: An diesem Tag fühlte ich mich mutig und impulsiv. Ich entfernte mich allmählich vom Platz, zuerst langsam und dann schneller, bis ich schon bald den steilen Abhang eines angelegten Hügels hinunterrannte und das Eiskraut unter meinen Stollen knirschte.
    Ich landete auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums, das neben dem Fußballplatz lag.
    Das Erste, was ich sah, war ein Naturkostladen, der auf Echtzeiter ausgerichtet war. Es war später Nachmittag, aber das Geschäft öffnete gerade erst seine Türen und gab damit den Blick frei auf Regale voller Vitamine, getrockneten Grünkohls und pflanzlicher Schlafmittel.
    Nebenan schoben Menschen Einkaufswagen in und aus der riesigen Drogerie, in die ich manchmal mit

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