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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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geklemmt. Er malte einen zweiten Vogel, ein paar Zentimeter höher am Himmel. Er begann einen dritten, radierte ihn aus, fing neu an.
    Die Geräusche der Bücherei waren folgende: das Knarren unserer Stühle, wenn wir atmeten, das Klappern von Trevors Tastatur, das gedämpfte Knirschen von Chips unter dem Druck von Dianes Zähnen, das Umblättern meiner Seiten – und das leise, angenehme Schaben von Seths Bleistift auf dem Papier.
    Draußen schlug jemand ans Fenster.
    »Mann«, flüsterte Seth mir zu. »Ich halte es da draußen nicht aus, weißt du?«
    Er sah mich von der Seite an und dann wieder auf seine Zeichnung. Seine Wimpern bildeten einen dichten Vorhang, als er blinzelte.
    »Ich weiß«, sagte ich schließlich.
    Der Gong ertönte. Wir packten unsere Taschen. Diane hatte Mühe mit dem Reißverschluss ihres Rucksacks. Trevor blieb über den Computer gebeugt sitzen.
    »Trevor«, sagte Mrs Marshall. »Es hat geläutet.«
    Und dann plötzlich stand jemand neben mir: Es war Seth, und er sagte etwas. Seth sagte etwas zu mir.
    »Hallo«, sagte er.
    Es gibt eine gewisse Art von Schock, die nur möglich ist, wenn man jung ist. Mir kam der Gedanke, er spräche vielleicht mit jemand anderem.
    »Danke für die Karte«, sagte er.
    »Oh«, sagte ich. »Bitte.«
    »Hast du das von den Walen gehört?«, fragte er.
    Ich musste den Kopf heben, um seine Augen zu sehen. Ich hatte Angst, etwas Falsches zu sagen, also sagte ich einen Moment lang gar nichts.
    »Ja«, erwiderte ich dann.
    Er wartete darauf, dass ich weitersprach. Ich spürte, wie mein Gesicht rot wurde. Die Fahnen aller Länder der Welt flatterten von den Deckenfliesen der Bücherei.
    »Vielleicht kann jemand ihnen helfen, zurück ins Wasser zu kommen«, sagte ich.
    Aber Seth schüttelte den Kopf.
    »Sie würden wahrscheinlich nur wieder stranden. Mein Vater ist Wissenschaftler. Er sagt, wenn die Wale von selbst an Land schwimmen, gibt es einen Grund dafür.«
    Andere Kinder spazierten jetzt einzeln in die Bücherei – das waren die mit einem Attest, das sie vom Sportunterricht befreite.
    »Ich gehe nach der Schule an den Strand, um sie mir anzusehen«, sagte Seth. Die Räder seines Skateboards drehten sich langsam, als er es von einer Hand in die andere nahm. »Willst du mit?«
    »Was?«, sagte ich.
    Von all den seltsamen Phänomenen, die uns in jenem Jahr widerfuhren, überraschte mich vielleicht nichts mehr als der Klang dieser kurzen Frage, die aus Seth Morenos Mund kullerte: »Willst du mit?«
    Ich erinnere mich noch an das rote Karomuster des Büchereiteppichs, das durch das Öffnen und Schließen der Tür verursachte Flattern der Fahnen über meinem Kopf.
    »Okay«, sagte ich.
    »Okay, dann«, sagte er.
    Und das war es. Er drehte sich um und ging.
    Auf dem Heimweg im Bus saßen wir getrennt. Wir stiegen beide mit den üblichen Kindern an unserer Haltestelle aus. Es war heiß und diesig. Staub wehte über den leeren Platz. Die anderen Kinder zerstreuten sich. Ich ließ mich in Seths Richtung treiben. Ich dachte, er würde womöglich sein Skateboard auf den Asphalt werfen und ohne mich den Hügel hinunterjagen. Vielleicht hatte ich ihn missverstanden. Vielleicht war das ein Witz.
    Doch er drehte sich blinzelnd um und sagte: »Wir können unsere Rucksäcke auf dem Weg bei mir abstellen.«
    Wir waren still, während wir liefen. Wir kommunizierten mit unseren Füßen, meine folgten seinen über den glitzernden Bürgersteig zu ihm nach Hause.
    Ich erzählte meinen Eltern nicht, wohin ich ging. Sie kämen ohnehin erst Stunden später von der Arbeit.
    Seth wohnte zwei Straßen von uns entfernt in einem beigen Bungalow mit einem rostigen Basketballkorb über der Garage. Der Vorgarten hatte sich in nackte Erde verwandelt. Eine Reihe von Tontöpfen stand ohne Blumen da.
    Die Haustür war nicht abgeschlossen, und wir gingen einfach hinein und stellten unsere Rucksäcke im Flur ab, in dem sich Zeitungen und Schmutzwäsche stapelten. Dicke Steppdecken dienten als Behelfsvorhänge zum Abdunkeln. Eine Sauerstoffflasche mit den zugehörigen Schläuchen lag verwickelt wie ein Wrack in einer Ecke. Seths Mutter war in diesem Haus gestorben.
    »Willst du eine Cola?«, fragte er.
    »Okay.«
    Wir tranken sie am Küchentisch.
    Sein Vater sei in der Arbeit, sagte Seth, da sei er die ganze Zeit. Er sei Bioingenieur und forsche an einer neuen Art von Getreide.
    »Wenn es klappt«, sagte er, »kann es ohne Licht wachsen.«
    Seth kannte eine Abkürzung durch den Canyon zum Strand. Es

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