Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
anders und versuchte zu lesen. Gab auf und trank Scotch.
Tag für Tag, Nacht für Nacht. Und die Nächte waren schlimm. Wurden immer schlimmer, je mehr Tage vergingen und er sie nicht fand. Er sah jetzt wieder den Halperin-Jungen vor sich, und wenn er schlafen wollte, dachte er an den Tod.
Gib auf, dachte er. Allie kann überall sein. Sie kann krank sein, sie kann verletzt sein. Vielleicht hat man sie zusammengeschlagen, oder sie hat sich den goldenen Schuß gesetzt. Immer öfter träumte er von Allie. In seinen Träumen war sie tot.
18
Sie sah gut aus.
Er sah sie, als er an einem der teureren Restaurants am Square vorbeiging. Er hatte nur kurz aufgesehen, ihr Bild eingefangen und blieb wie angewurzelt stehen. Sie war nur ein paar Zentimeter weit entfernt. Hinter einer Glasscheibe. Und sie sah gut aus, gesund, lebendig. Ihr blondes Haar leuchtete, sie lachte. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt, das in eine schwarze Jeans gesteckt war, die in schwarze Schnürstiefel gesteckt waren – ein weiblicher Peter Pan. Ihr Haar war kurz und ungleichmäßig geschnitten. Von ihrem linken Ohr hing eine feine Silberkette fast bis auf die Schulter herunter. Sie hatte blutroten Lippenstift aufgetragen. Sie trank Bier aus der Flasche. Sie war ein hübsches Mädchen, das sich gut amüsierte. Und sie war total stoned.
Eine schreckliche Sekunde lang dachte Neal, er mußte gegen das Glas klopfen und rufen: »Allie, komm mit. Zeit, nach Hause zu gehen.« Er trat schnell ein paar Schritte zurück, blieb an der Straßenecke stehen, und beobachtete sie. Er konnte sein eigenes Herz klopfen hören.
Bei Allie saßen drei Leute. Ein junger Mann von ungefähr Neals Größe. Er hatte einen Stoppelhaarschnitt und trug ein unglaublich versifftes T-Shirt, das in einer Zeit vor unserer Zeit einmal weiß gewesen war. Es war zerrissen, und jemand hatte auf die Brust geschrieben FUCK THE WORLD.
Eine Sicherheitsnadel war durch sein rechtes Ohrläppchen gebohrt. Seine Zähne waren unglaublich schlecht, und er lachte pausenlos über die Witze des anderen Mannes am Tisch, des dominanten. Das Lachen eines gehorsamen Affen. Der wäre kein Problem.
Neben ihm saß eine junge Frau. Sie hatte orange, violett und gelb schillernde Haare, trug schwarzen Lidschatten und Lippenstift und hatte riesige Brüste, die mühsam von einer schwarzen Lederweste im Zaum gehalten wurden. Sie war nicht sonderlich attraktiv, aber hübsch genug für den Lachenden, der sie dauernd befummelte. Sie könnte Ärger machen, dachte Neal, aber nicht besonders viel. Der andere Mann bedeutete Ärger. Er war der Chef, der Anführer. Es war sein Tisch, seine Party, es waren seine Gäste – seine Allie.
Er war mittelgroß, kräftig – ein Rugby-Typ, trug einen Khaki-Anzug, schwarzes T-Shirt, weiche braune Slipper, keine Socken. Ein kleiner Stecker zierte sein linkes Ohr und drei frische Kratzer seine linke Wange. Sie waren gerade verschorft, und Neal vermutete, daß er sie verdient hatte. Er trank etwas, das aussah wie ein großes Glas Gin, und er sah über das Glas hinweg Allie an und lächelte.
Er sagte irgend etwas, und Fuck-the-World brach in Gelächter aus. Wahrscheinlich begriff er nicht einmal, daß der Witz auf seine Kosten ging.
Ein ausgesprochen genervter Kellner kam an den Tisch. An seinem Blick konnte Neal erkennen, daß er die vier am liebsten auf die Straße gesetzt und vielleicht auch noch angezündet hätte, wenn ein Streichholz in Reichweite gewesen wäre. Aber sie hatten Geld, und zwar viel. Der Manager wollte wahrscheinlich, daß sie ihr Essen bekamen und abhauten, bevor die Stammkunden das Gefühl beschlich, daß diese Typen gern gesehen waren. Die anderen Gäste wurden bereits nervös, beschwerten sich aber nicht.
Der Anzug bestellte für alle vier.
Neal dachte eine Minute lang nach. Er mußte sich entscheiden: abwarten und sie verfolgen oder hineingehen. Sie zu verfolgen wäre vermutlich der sicherere Weg. Er könnte ihnen durch die Nacht folgen, ihre Adresse ausfindig machen und sich dann in aller Ruhe etwas ausdenken. Aber natürlich, wie das immer so ist, wenn man jemanden allein beschattet, könnte er sie auch verlieren und nie wieder eine Chance bekommen.
Andererseits, wenn er jetzt einfach so reinging, würde er die ganze Sache vielleicht vermasseln.
Er atmete tief durch, drängelte sich durch die Menschenmassen auf dem Gehsteig und betrat das Restaurant. Der Oberkellner begrüßte ihn mit dem hölzernen Lächeln, das für
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