Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
für die dieser Platz so eine Art Zuhause war. Öffentliche Parks und Plätze, die einstmals von stolzen Mittelklasse-Städtern zur Zierde gebaut worden waren, sicherten längst das Überleben der Ausgestoßenen. Solange man keinen Ärger machte, konnte man bleiben. Lauter zu schreien als üblich, Dope allzu offensichtlich zu verscherbeln oder eine Waffe hervorzuzaubern, um sich einen Platz auf einer Bank zu erobern, gehörten zu den wenigen Dingen, die die Polizei auf den Plan riefen.
Neal bemühte sich also nach Kräften, nicht aufzufallen, was er mehr oder weniger sowieso stets und ständig tat. Wenn man zu intensiv versucht, nicht aufzufallen, fällt man beinahe automatisch auf. Das gilt vor allem auf der Straße, deren Bewohner eine besonders feine Antenne für Unnatürlichkeit haben. Die beste Methode, nicht gesehen zu werden, ist, einfach sichtbar zu bleiben.
Menschen sehen vor allem Bewegungen. Wenn man still sitzt, nehmen sie einen nicht wahr.
Die Langeweile ist der verläßlichste Freund des Detektivs. Sie verschwindet nie lange, und sie kommt immer wieder zurück, dachte Neal.
Dabei war Langeweile nicht einmal unbedingt schlecht. Wenn einer der seltenen Fälle eintrat, in denen es spannend wurde – weil jemand ein Messer oder sogar eine Pistole zückte –, dann sah die Langeweile richtig gut aus. Außerdem: Es gab Schlimmeres als Langeweile. Im heißesten Juni aller Zeiten auf dem Londoner Leicester Square fiel es Neal allerdings schwer, sich mit dieser Sichtweise anzufreunden. Auf jemanden zu warten, der nicht kam. Der vielleicht nie kommen würde. Der vielleicht nur einen einzigen Abend mit Allie verbracht und sie dann weggeschickt hatte. Auf jemanden, der das fehlende Glied in einer sehr, sehr dünnen Kette war.
Neal hatte Einstein geschwänzt, aber er wußte, daß Zeit relativ war. Minuten krochen dahin, Stunden dehnten sich endlos, aber Tage rasten vorbei. Der Mai war rum, der Juni schon eine Woche alt, und Neal war Allie noch kein bißchen näher gekommen. Und sie zu entdecken, war erst der Anfang. Sie zu erwischen, würde Zeit kosten, sie in Form zu bringen, ebenfalls. Drüben in den Staaten bereiteten die Demokraten sich auf ihre Versammlung vor, Senator Chase feilte an seiner Antrittsrede, Ed Levine bombardierte Neal mit Telexen, in denen er »Taten« forderte, und Neal saß auf einer Bank und raste in Zeitlupe auf seine Ziellinie zu. Nur noch acht Wochen, der Countdown lief.
Die Hitze machte die Sache nur noch schlimmer. Nach zehn Minuten klebte Neals Hemd an der Bank. Seine Jeans sog sich an seinen Eiern fest, und seine Achselhöhlen rochen schon mittags wie eine Motorradgang.
Keine Brise, nicht der winzigste Hauch eines Windzugs.
Neal zwang sich hin und wieder aufzustehen und sich zu bewegen. Er spazierte in Covent Garden herum, dann den Piccadilly Circus entlang, durch Soho, Chinatown. Manchmal schaffte er es bis zur National Gallery, wo er die Menschenmassen auf dem Trafalgar Square beobachtete. Hunderte von Teenagern; aber keine Allie.
Meistens saß er jedoch einfach da, ein Tiger bei der Arbeit. Er fing um zwölf an. (Das Beste an Dealern sind ihre Arbeitszeiten.) Er ließ sich auf die Bank fallen, warf einen Blick in die International Herald Tribüne und las die Baseball-Ergebnisse. Die Yankees führten die Tabelle immer noch an, stellte er zufrieden fest und stopfte die Zeitung in den Mülleimer neben der Bank. Dann sperrte er die Augen auf. Langsam konnte er nachvollziehen, wie Platzanweiser im Kino sich fühlen mußten, wenn seit drei Monaten derselbe Film lief. Die Straßenhändler legten ihre Waren vor dem Maschendrahtzaun, der den Platz begrenzte, aus. Es war der übliche Schrott: niedliche kleine Bobby-Puppen, T-Shirts mit dem Buckingham Palace vorne drauf, Buttons mit dem Aufdruck LONDON UNDERGROUND. An kleinen Kiosken konnte man warme Cola, Soft-Eis, das nach genau 34 Sekunden über die Hand lief, und dicke Schokoriegel, die so schnell schmolzen, daß man mehr aufs Hemd als in den Mund bekam, kaufen.
Nach den Händlern kamen die Touristen: eine Menge Amerikaner, aber auch viele italienische Teenager, die offensichtlich ausschließlich in Dreitausender-Gruppen einreisten, und winzig kleine japanische Foto-Freaks. Neal hielt nicht viel von Klischees, aber dieses stimmte: Die Japaner fotografierten alles, und zwar jeder von ihnen, als hätte ihnen noch niemand verraten, daß man von einem Negativ mehrere Abzüge machen konnte. Sie trieben ihn fast in den Wahnsinn. Er
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