Ein kalter Mord - McCullough, C: Ein kalter Mord
gesehen hätten. Und die einzigen Autos, die in dieser Nacht an der Deer Lane geparkt hatten, waren Zivilfahrzeuge der Polizei gewesen. Während es also durchaus möglich war, dass Chuck Ponsonby den Hang hinter seinem Haus ohne Taschenlampe hinaufgegangen war, wohin wäre er von dort aus dann gegangen? Er hätte sein Fahrzeug erst in gehöriger Entfernung an der 133 abstellen können, oder falls das Fahrzeug einem Partner gehörte, dann hätte es ihn nicht in der Nähe abgeholt haben können. Ein so langer Fußmarsch bei minus achtzehn Grad? Unwahrscheinlich. Also, wie hatte er es gemacht?
Carmine hatte einen Grundsatz: Wenn du gezwungen bist, an einem schönen Tag einen Spaziergang zu machen, dann tu’s in der Nähe einer verdächtigen Person; und wenn dieser Spaziergang in einen Wald führt, dann nimm dir ein Fernglas mit, um die Vögelchen zu beobachten. Ein Fernglas um den Hals marschierte Carmine zwischen den Bäumen den Hang in Richtung auf den Grat hinauf, der oberhalb der Hausnummer 6,Ponsonby Lane lag. Der Boden war dreißig Zentimeter mit feuchtem Laub bedeckt, der Schnee überall geschmolzen außer im Windschatten des vereinzelten Felsblocks. Mehrere Rehe gingen ihm aus dem Weg, nicht sonderlich alarmiert; Tiere wussten immer, wenn sie sich in einem Wildgehege befanden. Es war, sinnierte Carmine, ein hübscher Ort, sehr friedlich um diese Jahreszeit. Im Sommer würde das jaulende Dröhnen von Rasenmähern und gellendes Gelächter von Essen im Freien diese Stille durchdringen.
Einmal auf dem Grat angekommen, war es überraschend einfach, das Haus der Ponsonbys zu sehen. Die Bäume ihres Abhangs waren ausgeholzt worden, um einen klaren Akzent zu setzen: eine Gruppe amerikanischer Birken, eine wunderschöne, gesund aussehende alte Ulme, zehn so gruppierte Ahorne, dass ihr Laub im Herbst eine atemberaubende Ansicht böte, und dazu Baumschulexemplare von Hartriegel, die das Gelände im Frühjahr in ein rose-weißes Traumland verwandeln würden.
Carmine hob das Fernglas und betrachtete aufmerksam das Haus, als wäre es keine zwanzig Meter von ihm entfernt. Dort stand Chuck mit Spachtel und Lötlampe auf einer Leiter und entfernte alten Anstrich. Claire lümmelte auf einem hölzernen Gartenstuhl nahe der Veranda. Biddy lag zu ihren Füßen. Die sanfte Brise wehte Carmine ins Gesicht, daher hatte der Hund seine Gegenwart noch nicht gewittert. Dann rief Chuck etwas. Claire stand auf und ging so zielsicher um die Seite des Hauses herum, dass Carmine verblüfft war. Doch er
wusste
, dass Claire blind war.
Woher wusste er das denn eigentlich so genau? Weil Carmine jeden Stein umdrehen musste, und Claires Blindheit war ganz klar ein Stein, der in seinem Weg lag. Gelegentlich nutzte er die Dienste von Carrie Tallboys, einer Gefängniswärterin, die sichabrackerte, um ihren Sohn zu unterstützen. Carrie besaß ein bemerkenswertes Talent, welches unter anderem beinhaltete, dass sie eine Rolle so überzeugend spielen konnte, dass Menschen ihr viel mehr erzählten, als unter gewissen Umständen gut für sie war. Also hatte Carmine Carrie zu Claires Augenarzt geschickt, dem angesehenen Carter Holt. Ihre Geschichte lautete, dass sie darüber nachdenke, einen ansehnlichen Betrag zur Erforschung der Retinitis pigmentosa zu spenden, da ihre liebe, gute Freundin Claire Ponsonby an dieser Krankheit litt, bevor sie vollends erblindete. Ah, er erinnerte sich noch gut an den Tag, als Claire mit beidseitiger Ablösung der Netzhaut in seine Praxis kam – es war so selten, dass beide Augen gleichzeitig ihre Funktion verloren! Sein erster großer Fall, und dann hatte es einer sein müssen, den zu heilen er nicht imstande war. Aber, protestierte Carrie, heutzutage könnte das doch bestimmt geheilt werden? Ganz sicher nicht, erwiderte Dr. Holt. Claire Ponsonby war für ihr Leben unheilbar erblindet. Er hatte in ihre Augen geblickt und den Schaden selbst gesehen. Schlimm!
Carmine beobachtete, wie die blinde Claire angeregt mit Chuck sprach, der seine Leiter herabstieg, sich bei seiner Schwester einhakte und sie über die Veranda hinein ins Haus brachte. Der Hund folgte ihnen; dann hörte er die leisen Klänge einer Symphonie von Brahms. Die Ponsonbys hatten genügend frische Luft gehabt. Obwohl – Moment, Moment! Chuck tauchte wieder auf, sammelte sein Werkzeug ein und brachte es mitsamt der Leiter in die Garage, bevor er ins Haus zurückkehrte.
Carmine ließ das Fernglas sinken und drehte sich zum Rückweg zur Deer Lane um. Der
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