Ein kalter Mord - McCullough, C: Ein kalter Mord
ein Zehn- und ein Ein-Cent-Stück befanden. Carmine legte die Geldbörse auf seinen Schreibtisch. Ein Herrentaschentuch; Kattun, nicht Leinen. Und ganz unten Stücke und Krümel von etwas, das er für Kekse hielt. Die Mutter hatte sie wahrscheinlich im Bahnhofscafé gestohlen, damit das Kind während der Bahnfahrt etwas zu essen hatte; das könnte auch der Grund gewesen sein, warum sie sich draußen im Schnee versteckten. Die Obduktionen hatten ergeben, dass beide Mägen leer gewesen waren. Ja, sie hatte die Kekse gestohlen.
Die Reisetasche war nicht groß, verblichen, abgewetzt an manchen Stellen. Er öffnete sie mit behutsamer Ehrfurcht; hier drinnen befand sich so ziemlich alles, was die arme Frau je besessen hatte, und nichts war anrührender als der stumme Beweis längst vergangener Leben.
Obenauf lagen zwei Wollschals, von Hand gestrickt in verschiedenfarbigen Streifen, als wären Reste verarbeitet worden. Aber warum lagen die Schals in der Tasche, wo doch das Wetter so schrecklich gewesen war? Darunter dann zwei saubere Damenschlüpfer sowie zwei erheblich kleinere, die offensichtlich dem Kind gehörten. Ein Paar Stricksocken und ein Paar gestrickte Strümpfe. Und ganz unten, sorgfältig gefaltet zwischen zerrissenem Seidenpapier, das Kleid eines kleinen Mädchens.
Carmine hörte auf zu atmen. Das Kleid eines kleinen Mädchens. Hergestellt aus hellblauer französischer Spitze, fein bestickt mit Perlen. Gepuffte Ärmel über niedlichen Manschetten, mit Perlen besetzte Knöpfe auf dem Rücken, ein Futter aus Seide und darunter ein steifes Netzgewebe gerafft, um den Rock wie das Ballettröckchen einer Ballerina abstehen zu lassen. Der Vorläufer eines Tinker Bell aus dem Jahre 1930, nur dass dieses Kleid vollständig von Hand gefertigt war, jede Perle einzeln und fest aufgenäht. Oh, was die Cops des Jahres 1930 alles übersehen hatten! Auf der linken Brust war das Wort EMMA in dunklen, leicht violetten Perlen hervorgehoben.
Mit schwirrendem Kopf legte Carmine das Kleid auf seinen Schreibtisch und starrte es eine Zeitlang an.
Schließlich setzte er sich, stellte die Reisetasche auf seinen Schoß und öffnete sie, so weit, wie die rostigen Scharniere es zuließen. Das Futter war verschlissen und an einem seitlichen Saum aufgerissen; er schob beide Hände in die Tasche und tastete darin herum, mit geschlossenen Augen. Da! Etwas!
Ein Foto, nicht mit einer billigen Boxkamera geschossen. Dies hier war eine Porträtaufnahme, die immer noch in einem cremefarbenen Kartonpassepartout steckte, auf dem sich der Stempel mit dem Namen des Photographen befand.
Mayhew Studios, Windsor Locks.
Jemand hatte auf den Rahmen darunteretwas geschrieben, das wie »1928« aussah, allerdings mit Bleistift, der jetzt so schwach war, dass man nur raten konnte.
Die Frau saß auf einem Stuhl, das Kind – ungefähr vier Jahre alt – saß auf ihren Knien. Auf dieser Aufnahme war die Frau erheblich besser gekleidet, hatte eine richtige Perlenkette um den Hals und echte Perlenstecker in den Ohrläppchen. Das kleine Mädchen trug ein Kleid sehr ähnlich dem in der Reisetasche. EMMA war deutlich zu erkennen. Und beide hatten sie das Gesicht. Selbst in Schwarzweiß suggerierte ihre Haut Milchkaffee; ihr Haar war dicht, schwarz und lockig, ihre Augen sehr dunkel, die Lippen voll. Für Carmine sahen sie wunderschön aus.
Ein Verbrechen aus Hass. Warum hatte das niemand erkannt? Kein Mörder würde so oft und so hart zuschlagen, wäre nicht Hass das Motiv. Ein Verbrechen aus Hass, und es war absolut unmöglich, dass diese beiden weiblichen Lebewesen nichts mit Leonard Ponsonby zu tun hatten. Sie waren da, weil er da war, er war da, weil sie da waren.
Dann ist es also doch Charles Ponsonby. Auch wenn er nicht alt genug war, um dies zu tun. Auch Morton nicht oder Claire. Das hier war die verrückte Ida, über ein Jahrzehnt bevor sie wahnsinnig wurde. Was bedeutet, dass Leonard und Emmas Mutter – was waren? Ein Liebespaar? Verwandte? Das eine war so wahrscheinlich wie das andere. Ida war ultrakonservativ, für sie kam gemischtrassig nicht in Frage. So viele Fragen! Warum waren Emma und ihre Mutter im Januar 1930 so arm, wenn Leonard doch mit 2000 $ in der Tasche bei ihnen war und mit Diamantschmuck protzte? Was war Emma und ihrer Mutter zwischen dem Wohlstand des Windsor-Locks-Fotos von 1928 und ihrer Verelendung im Januar 1930 widerfahren?
Genug, Carmine, genug! 1930 kann warten, 1966 nicht. ChuckPonsonby ist ein Gespenst – oder ist
Weitere Kostenlose Bücher