Ein kalter Strom
war sein wirkliches Ich: ein Jäger, der die Witterung seiner Beute aufnahm. Er war wieder da, wo er hingehörte, und es war ein wunderbares Gefühl.
Carol erfasste nur zu deutlich den ironischen Hintersinn der Oper, Janáceks
Das schlaue Füchslein,
die sie von einem Platz in einer der hinteren Parkettreihen der Berliner Staatsoper aus sah. Die dramatische Handlung, die sie bei einer anderen Oper zerstreut hätte, bewirkte, dass ihre gefährliche Aufgabe ihr noch klarer vor Augen trat. Der erste Akt nahm seinen Lauf: Der Förster fängt die kleine Füchsin, sie wehrt die sexuellen Avancen des Hundes ab und wird von den Kindern gequält. Sie lockt die Hühner an, beißt den Hahn tot und flieht, bevor die Vergeltung sie ereilen kann.
Ich bin das schlaue Füchslein
, dachte Carol. Sie würde Tadeusz Radecki sich in dem Glauben wiegen lassen, sie sei auf seinen Befehl hin in seinem Lager. Der Versuchung, sich ködern zu lassen und ihre wahre Natur zu zeigen, würde sie widerstehen, und sie rechnete auch damit, dass sie sich Radecki vom Leib halten musste. Dann würde sie sich in sein Hühnerhaus schleichen, sich seiner Hühner bemächtigen und sich davonmachen, bevor sie dafür bezahlen musste.
Als der Akt ausklang, verließ Carol unauffällig ihren Platz am Ende der Sitzreihe und den Zuschauerraum. Ihr Herz raste, und ihr Magen war schmerzhaft verkrampft. Obwohl der Stoff ihres nachtblauen, engen langen Seidenkleids ganz leicht war, spürte sie den Schweiß auf ihrem Rücken. Adrenalin schoss ihr in die Adern. Hinter ihr begann man zu klatschen. Jetzt oder nie, sagte sie sich und ging auf die Treppe zu, die zu den Logen führte. Linker Hand, wie Petra ihr gesagt hatte.
Petra hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Radecki, so hatte sie gesagt, hatte kürzlich wieder angefangen, in die Oper zu gehen, und war immer allein in seiner Loge, wo er auch während der Pausen blieb, weil er seine Freunde oder Bekannten nicht treffen wollte. Er ging nie ans Büfett und ließ sich stattdessen vom Personal des Opernhauses vor Beginn der Vorstellung Champagner bringen. »Es ist ein aufregender Ort für dein erstes Treffen«, hatte Petra gesagt. »Er ist immer mit Katerina in die Oper gegangen, er wird also sowieso in Gedanken bei ihr sein.« Tony hatte zugestimmt, dass es aus psychologischer Sicht ein packender Augenblick sei, den Carol für sich nutzen konnte. Radecki würde völlig überrascht und für ihre Erscheinung anfälliger sein als bei jeder denkbaren geschäftlichen Begegnung.
Carol ging die Treppe hinauf, der schwere Teppich fing ihre Schritte auf. Die Türen des Saals wurden geöffnet, und das Publikum strömte plaudernd und lachend heraus. Sie schob sich durch die Menge und ging weiter in einen Seitenkorridor. Zweite Loge rechts, hatte Petra ihr gesagt. Carol starrte auf die Tür und ließ ein Stoßgebet zu einem Schutzengel aufsteigen, der sie hoffentlich auch hörte. Sie klemmte ihr Abendtäschchen unter den Arm und pochte leicht an die Tür.
Keine Antwort. Sie klopfte wieder, diesmal lauter. Nach einem Moment wurde die Tür plötzlich aufgerissen. Tadeusz Radecki stand im Türrahmen, von schlanker Gestalt und gut 15 Zentimeter größer als sie.
Das Foto wurde ihm nicht gerecht
, dachte Carol beiläufig. Obwohl sein finsterer Blick ihm nicht schmeichelte, sah er in natura phantastisch aus. Sein gut geschnittener Smoking betonte seine breiten Schultern, schmalen Hüften und langen Beine. »
Was ist
?«, stieß er hervor, ehe er sie richtig angesehen hatte.
Bevor sie irgendwie antworten konnte, kam das Bild, das seine Augen wahrnahmen, in seinem Gehirn an. Carol hatte noch nie jemanden so unmittelbar körperlich zurückschrecken sehen, aber es gab kein besseres Wort, um seine Reaktion zu beschreiben. Tadeusz richtete sich zu seiner vollen Größe auf und trat zugleich einen Schritt nach hinten. Seine Augen wurden groß, und sein Mund war eine dünne Linie, durch die er den Atem einsog.
»Es tut mir Leid, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte sie auf Englisch und machte ein verwirrtes Gesicht.
Eine ganze Serie von Gefühlen veränderten nacheinander seinen Gesichtsausdruck. Sie konnte sich vorstellen, was in seinem Kopf vorging. Sah er einen Geist? Nein, Geister konnten nicht reden. War es eine Halluzination? Nein, eine Halluzination würde nicht Englisch mit ihm sprechen. Aber wenn sie weder ein Geist noch eine Halluzination war, wer war sie dann, die hier in der Logentür stand, wo er früher mit Katerina
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