Ein kalter Strom
achtziger Jahren an, die Unterlagen zu archivieren, und nach der Wiedervereinigung konnten wir auch die alten aus dem Osten aufspüren. Ich bin froh, dass wir sie haben. Wir sollten nie vergessen, was einmal im Namen des deutschen Volkes geschehen ist.«
»Und was hat man mit diesen Kindern gemacht?«, fragte er.
Der Glanz wich aus Dr. Wertheimers Augen. »Mit denen, die überlebten? Sie wurden wie Laborratten behandelt. Die meisten wurden hier unten in einer Reihe von Zellen und Schlafsälen gehalten. Das Personal nannte es das U-Boot. Kein Tageslicht, man merkte nicht, wann es Tag und Nacht war. Sie machten verschiedene Experimente mit Schlafentzug, indem sie die Länge der wahrgenommenen Tage und Nächte veränderten. Sie ließen ein Kind drei Stunden schlafen, dann weckten sie es auf und sagten: ›Es ist Morgen, hier ist dein Frühstück.‹ Zwei Stunden später kam das Mittagessen. Zwei Stunden danach das Abendessen. Dann sagte man ihnen, es wäre Nacht, und die Lichter wurden gelöscht. Oder die Tage wurden verlängert.«
»Das war angeblich Forschung, nicht wahr?«, fragte Tony, und Abscheu saß ihm wie ein Kloß in der Kehle. Es entsetzte ihn immer wieder, dass Menschen seiner eigenen Zunft sich so weit von der Pflicht entfernen konnten, zu der sie sich bekannt hatten: allen ihrer Obhut Anvertrauten zu helfen. Dieser Fall hatte etwas erschreckend Persönliches. Er beschwor die Bilder eines Albtraums herauf, der von Männern und Frauen geschaffen worden war, die irgendwann einmal an die therapeutischen Möglichkeiten ihrer Arbeit geglaubt haben mussten. Dass sie sich so leicht von diesem Ideal abkehren konnten, war erschreckend, weil es daran erinnerte, wie dünn die Deckschicht der Zivilisation in Wirklichkeit war.
»Ja, das sollte tatsächlich Forschung sein«, stimmte Dr. Wertheimer traurig zu. »Es sollte den Generälen angeblich entscheiden helfen, wie sehr man die Truppen antreiben konnte. Natürlich wurde es nie irgendwie praktisch angewandt. Es war lediglich ein Experiment der Machtausübung über die Schwachen. Die Ärzte frönten ihren Einfällen und testeten ihre eigene Vorstellung von Vernichtung. Wir hatten hier eine Wasserfolterzelle, wo sie Handlungen unaussprechlicher körperlicher und psychischer Grausamkeit durchführten.«
»Wasserfolter?« Tonys Interesse war erwacht.
»Wir waren nicht die einzige Institution, die solch eine Einrichtung hatte. Bekannt war auch die im Hohenschönhausener Gefängnis in Berlin, aber die war für Erwachsene. Hier waren die Objekte Kinder, und die Absicht war angeblich, Experimente durchzuführen, keine Strafen oder Verhöre.«
»Hat man Wasser in die Kehlen der Kinder geschüttet?«, fragte Tony.
Dr. Wertheimer runzelte die Stirn und senkte den Blick. »Ja. Sie führten verschiedene Reihen von Experimenten durch, um die physische Widerstandsfähigkeit zu prüfen. Natürlich sind viele Kinder gestorben. Man braucht erstaunlich wenig Wasser, um ein Kind zu ertränken, wenn man mit Gewalt Wasser in die Atemwege einführt.« Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie das Bild verscheuchen. »Sie haben es auch für psychologische Experimente benutzt. Ich habe keine Details darüber, aber sie sind irgendwo in den Unterlagen.«
»Wären Sie in der Lage, sie zu finden?«
»Wahrscheinlich nicht mehr heute, aber ich kann jemanden danach suchen lassen.« Bevor Tony antworten konnte, klingelte das Faxgerät. Dr. Wertheimer ging hin und sah zu, wie es das Papier ausspuckte. »Es sieht aus, als hätte Ihre Kollegin Erfolg gehabt«, sagte sie. »Es wird eine Weile dauern, bis alle Listen ausgedruckt sind. Wollen Sie eine Führung durchs Schloss mitmachen, während wir warten?«
Er schüttelte den Kopf. »Im Moment habe ich wenig Lust auf einen Touristenrundgang.«
Dr. Wertheimer nickte. »Das kann ich gut verstehen. Wir haben im Hof eine Cafeteria. Möchten Sie vielleicht dort warten, und ich bringe Ihnen dann die Ausdrucke?«
Drei Stunden später war er wieder auf dem Heimweg, und ein dickes Bündel Papier in einem gepolsterten Umschlag lag neben ihm. Er freute sich nicht auf diese Lektüre. Aber wenn sie Glück hatten, würden sie dem Mörder vielleicht einen kleinen Schritt näher kommen.
Der Wind fuhr Carol durchs Haar und holte die verbrauchte Stadtluft aus ihrer Lunge. Sie konnte sich vorstellen, wie leicht Caroline Jackson der Freude erlegen wäre, in einem BMW -Kabriolett in den Frühlingssonnenschein entführt zu werden. Welche Frau wäre das
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