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Ein kalter Strom

Ein kalter Strom

Titel: Ein kalter Strom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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Polizei –, die Wände zwischen sich und den bedrückenden Erfahrungen errichtet hatten, denen sie bei ihrer Arbeit ausgesetzt waren. Er konnte sie wegen dieses Abstands nicht wirklich tadeln. Niemand mit gesundem Menschenverstand würde sich das aussuchen, was sie sehen mussten, die Sturzbäche von Schmerz und Wut, die sie sich anhören mussten bei den menschlichen Wracks, mit denen sie es zu tun hatten. Aber er hatte am Anfang seiner klinischen Laufbahn gelobt, sich nie zu scheuen, Mitgefühl zu empfinden, was immer es auch koste. Wenn der Preis zu hoch wurde, konnte er immer noch auf eine andere Tätigkeit ausweichen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber er war überzeugt, dass es im Grunde unredlich war, das Verständnis für den Schmerz anderer, sowohl der Täter als auch der Opfer, zu verdrängen.
    Das Bündel von Unterlagen, das er von Schloss Hohenstein mitgebracht hatte, war eine Zerreißprobe für diese Überzeugung. Die nüchternen Namenslisten, Diagnosen und so genannten Behandlungen beschworen ein solches Höllenszenario herauf, dass er wünschte, er könnte das Material mit gelassener wissenschaftlicher Objektivität betrachten. Stattdessen fühlte er sich bis ins Innerste aufgewühlt. Allein im Besitz dieser Information zu sein, war schon genug, ihm für lange Zeit den nächtlichen Schlaf zu rauben, das wusste er genau.
    Dr. Wertheimer hatte damit Recht gehabt, dass die ärztliche Zunft der NS -Zeit wie besessen Berge von Akten füllte. Es gab Hunderte von Namen, über das ganze Land verstreut. Für jedes Kind lagen die persönlichen Daten – Name, Alter, Adresse, Name und Beruf der Eltern – vor. Als Nächstes kam der Grund für ihre Einlieferung in die Anstalt. Die häufigste Begründung war »geistige Unterentwicklung«, gleich darauf folgte »körperliche Behinderung«. Aber einige der Erklärungen dafür, dass die Kinder aus den Familien herausgerissen wurden, waren zutiefst deprimierend. »Angeborene Faulheit«. »Asoziales Verhalten«. »Rassisch minderwertig«.
    Was musste es für die Eltern solcher Kinder bedeutet haben, sich ihre Nachkommen tatenlos wegnehmen zu lassen im Bewusstsein, dass die Vergeltung über sie selbst hereinbrechen würde, wenn sie protestierten, und dass es keine Aussicht gab, ihr Kind zu retten? Er glaubte, sie mussten in einen Zustand der Verzweiflung verfallen sein, der Gefühlsleben und Psyche zerstörte. Kein Wunder, dass die Nachkriegsgeneration der Deutschen nicht mit dem konfrontiert werden wollte, was anscheinend mit ihrer Zustimmung ihren eigenen Kindern angetan wurde.
    Zumindest den am schwersten behinderten Kindern mochte wohl das Wissen um das, was mit ihnen geschah, erspart geblieben sein. Aber für die anderen, die zusahen, wie ihre Kameraden neben ihnen umkamen, musste das Lebensgefühl auf den täglichen Nadelstich der Erleichterung reduziert gewesen sein, wenn sie bei Anbruch eines neuen Tages noch die Augen öffnen konnten, ihn zu sehen.
    Das Schicksal einer großen Zahl Kinder wurde einfach wie folgt beschrieben: »Behandlung: Injektion experimenteller Mittel. Keine Reaktion.« Darauf folgten Datum und Uhrzeit des Todeseintritts. Das war offensichtlich der Code für Euthanasie. Es war ein seltenes Beispiel dafür, dass die Arroganz des Regimes auch einmal vor etwas zurückschreckte. Obwohl man überzeugt war, für das, was man diesen Kindern im Namen arischer Reinheit angetan hatte, nie zur Verantwortung gezogen zu werden, hatte man diese euphemistische Umschreibung für nötig erachtet.
    Das hieß jedoch nicht, dass auch nur ein Rest von Respekt für die Unschuld der Opfer erhalten blieb. Das Schicksal der anderen Kinder wurde in dürren Worten aufgelistet, bei denen Tony sich schämte, Mediziner zu sein. Manche waren qualvoll nach Spritzen in die Augen gestorben, die für eine Reihe von Experimenten zur Augenfarbe durchgeführt wurden. Mit anderen wurde die Erforschung von Schlafrhythmen durchgeführt, die sie den Verstand verlieren ließ. Die Liste war lang und enthielt manchmal Literaturhinweise auf wissenschaftliche Schriften, wo man die Resultate studieren konnte.
    Und niemand war dafür bestraft worden. Noch schlimmer, es gab Fälle, wo stillschweigend ein Pakt zwischen den Alliierten und den besiegten Nazis geschlossen wurde. Die Forschungsergebnisse gingen als Gegenleistung für das Schweigen der Täter ins Eigentum der Sieger über.
    Wenn Geronimo persönlich einen schrecklichen Preis für das gezahlt hatte, was im Namen der

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