Ein Kelch voll Wind
Moment herbeigerannt kommen, um mich aus der Bahn zu zerren. Oder vielleicht würde eine riesige Virginia-Eiche auf die Gleise stürzen und uns zerquetschen. Oder irgendjemand würde versuchen, sich meinen Rucksack zu krallen. Irgendetwas, eine namenlose Bedrohung, hing schwer über mir und hielt mich fest in seinen Klauen.
Vielleicht sollte ich zu koffeinfreiem Kaffee wechseln.
Ich saß im hinteren Teil des Zugs. Jeder Sitz war belegt mit Leuten, die zur Arbeit mussten, mit Jugendlichen in katholischer Schuluniform, mit Teenagern, die in die Ecole Bernardin und andere Schulen gingen. In der Straßenbahn zu fahren, kam mir im Vergleich zu– na ja, sagen wir – einer U-Bahn immer noch ziemlich schrullig und altmodisch vor.
Als wir Sacré Coeur , eine katholische Mädchenschule, hinter uns gelassen hatten, waren viele Plätze frei geworden. Immer noch nervös entschloss ich mich, mich ein bisschen weiter nach vorne zu setzen, um besser sehen zu können, wann die Ecole Bernardin auftauchte. Ich erhob mich, nahm meinen Rucksack und ging einen knappen Meter den Gang hinunter, als ich plötzlich einen Schrei hörte. Die Zeit schien sich ins Unendliche zu dehnen, während ich mich umdrehte.
Vor den hinteren Fenstern sah ich einen knallroten Kleintransporter, der über den Bordstein gefahren war und direkt auf die Straßenbahn zugerast kam. Ich hatte kaum Zeit zu zwinkern, als der Wagen in eine der altmodischen Straßenlaternen krachte, welche die St. Charles Avenue umsäumten. Die Laterne brach ein paar Zentimeter über dem Boden ab. Das obere Ende durchbohrte das Fenster der Straßenbahn, ließ die Scheibe zersplittern und ragte bis halb in den Gang hinein.
Genau an der Stelle, an der ich gesessen hatte.
Die Straßenbahn konnte nicht sofort anhalten, also schleiften wir die Laterne noch ungefähr sechs Meter hinter uns her, wobei die Bremsen quietschten und Funken schlugen. Mit weichen Knien sank ich auf den nächstbesten Sitz. Wenn ich nicht aufgestanden wäre, hätte mich die kaputte, gezackte Laterne aufgespießt wie einen Fisch.
Der Fahrer schritt in den hinteren Teil der Bahn und besah sich den Schaden. Er wirkte riesig und sehr wütend.
»J emand verletzt?«, dröhnte er. Wir blickten einander an.
Trotz der Glassplitter hatte niemand auch nur einen Kratzer abbekommen. Die Leute waren fast von ihren Sitzen geschleudert worden, aber wirklich gefallen war niemand. Es war unglaublich. Ich zitterte, wenn ich darüber nachdachte, wie knapp es für mich gewesen war.
»O kay, alle Mann in den vorderen Zugteil«, erklang die autoritäre Stimme des Fahrers. »U nd passen Sie auf das Glas auf.« Er öffnete die Hintertür der Straßenbahn und sprang auf den Mittelstreifen, wo sich ein benommen aussehender Teenager mit Baseballkappe aus dem Kleintransporter zwängte.
Der Fahrer begann, den vollkommen verängstigten Jungen anzuschreien. Ich hörte ihn stöhnen: »M ein Dad wird mich umbringen.«
»D a wird er sich hinten anstellen müssen!«, rief der Fahrer verärgert. »S chau nur, was du mit meiner Bahn gemacht hast, du Trottel!«
Dann kam die Polizei. Als sie alles untersucht hatte, wurde die Straßenbahn außer Betrieb genommen. Da ich nicht auf die nächste warten wollte, lief ich die letzten zehn Blocks zu Fuß zur Schule. Nach meinem knappen Entrinnen fühlte ich mich nun noch aufgeputschter und ängstlicher. Verschwitzt schleppte ich mich in der hohen Luftfeuchtigkeit voran und erreichte die Schule, kurz nachdem der erste Gong erklungen war. Die Flure leerten sich bereits, als ich ins Gebäude eilte. Ich wollte zu Clio, wollte hören, was ihre Großmutter gesagt hatte, wollte sie einfach nur sehen, um sicherzugehen, dass ich mir die ganze Sache nicht nur eingebildet hatte.
Einige Leute riefen mir ein kurzes »h i« zu– die Zwillingsgeschichte hatte sich wahrscheinlich längst rumgesprochen. Ich lächelte unsicher zurück, dankbar für jedes freundliche Gesicht.
»T hais! Hey!«, rief Sylvie, während sie auf mich zuging. »H ast du einen Schnellhefter mit Namensschild gefunden? Das stand auf unserer Ausstattungsliste.«
Ich nickte und lächelte schwach. »J a. Aber dafür wäre ich heute fast von einem Laternenmast erschlagen worden.« Ich erzählte ihr, was passiert war, und versuchte, nicht ganz so erschrocken zu klingen, wie ich in Wirklichkeit war.
»O h nein!«, rief sie mitfühlend. »W as für ein schrecklicher Start in den Tag. Aber ich bin froh, dass dir nichts passiert ist.«
Sylvie mochte
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