Ein Kelch voll Wind
Straße. Erstaunlicherweise war kein einziger Nachbar zu uns herausgekommen, um zu sehen, was das Geschrei zu bedeuten hatte. Doch wahrscheinlich waren auch sie mit einem Zauber belegt worden, der sie in ihren Häusern hatte ausharren lassen.
»K omm«, sagte ich und merkte, dass man mich kaum verstand. Meine Zunge schien meinen ganzen Mund auszufüllen und ich wusste, dass wir schnellstmöglich Hilfe brauchten. Wir waren beide Hunderte Male gestochen worden.
Thais zitterte und schluchzte, mit geschlossenen Augen, und hatte die aufgedunsenen Arme immer noch um ihren Kopf gelegt. Ich nahm sie an der Schulter und schob sie langsam zum Haus zurück. In Gedanken sandte ich einer meiner Lehrerinnen, Melysa, einen Notruf. Ich konnte nicht mehr telefonieren und ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit uns noch blieb.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte mir Nan immer geholfen, wenn ich in Schwierigkeiten gesteckt hatte oder verletzt war. Ich hatte mich darauf verlassen, dass sie alles richten würde. Doch jetzt, wo sie weg war, musste ich die Starke sein, diejenige, die uns rettete.
»I ch hasse diesen Ort!«, schluchzte Thais. »B ettlaken greifen einen an, Lieferwagen fahren in Trams hinein und jetzt auch noch Killerwespen! Das hier ist lebensgefährlich!«
»S chsch, schsch«, machte ich automatisch und zog Thais sanft durch das Gartentor. Sofort fühlte ich mich sicherer. Wir stolperten die Verandatreppe nach oben, und ich stand Höllenqualen aus, als ich meine Hand in meine Hosentasche steckte, um den Hausschlüssel daraus hervorzukramen.
Ich war kaum in der Lage, ihn im Schloss umzudrehen. Ich fühlte, wie Melysa die Straße heruntergerannt kam. Sie lebte drei Blocks von uns entfernt– sie war eine von Nans besten Freundinnen, eine der besten Hexen in unserem Zirkel und hatte mir das ganze letzte Jahr Privatlektionen in Sachen Heilzauber erteilt.
Sie stürzte durch das Tor, wobei ihr volles, graues Haar hinter ihr herwehte.
»C lio!«, rief sie, als sie uns sah.
Ich brachte nur ein genuscheltes »u uunnhhh« hervor.
»I ns Haus, ins Haus«, sagte Melysa und achtete darauf, uns nicht zu berühren. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, geschweige denn Thais’ Anwesenheit erklären oder ihr auch nur berichten, was sich zugetragen hatte. Meine Sicht verengte sich, wurde frostig-schwarz an den Rändern, und schließlich merkte ich nur noch, dass ich fiel und fiel. Wie in Zeitlupe.
Kapitel 33
Thais
Ein schweres Gewicht lastete auf meiner Brust und erschwerte mir das Atmen. Erschrocken öffnete ich die Augen– und blickte direkt in ein breites, weißes, pelziges Gesicht. Q-Tip.
»M ann, Katze, du solltest deine Diät ernster nehmen«, brummelte ich und schob ihn sachte von mir herunter. Aaah. Ich bekam wieder Luft.
Noch immer war ich bei Clio. Dies musste Nans Zimmer sein. Ich stand aus dem Bett auf und ging langsam zur Tür. Ich fühlte mich, als hätte jemand mit einem Baseballschläger auf mich eingedroschen. Auf dem Treppenabsatz erinnerte ich mich plötzlich an die ganze schreckliche Nacht. Sie hatte mit der Entdeckung begonnen, dass ich Luc offensichtlich nichts bedeutete, und mit Killerwespen geendet, die mich hatten umbringen wollen. Ich warf einen Blick auf meine Arme. Sie waren mit Hunderten blassrosa Flecken übersät, die jedoch inzwischen unscheinbar geworden waren.
Ich schaute in Clios Zimmer. Leer.
Unten trottete ich barfuß in die Küche. Clio saß an dem kleinen Tisch und hatte ihre Hände um eine Tasse geschlungen. Als sie zu mir aufblickte, lag ein klarer und seltsam ruhiger Ausdruck in ihren Augen.
»K affee?«, fragte sie.
»G ott, ja«, sagte ich und schenkte mir eine Tasse ein.
»W iederhol doch bitte noch mal, was du gestern erzählt hast. Das mit der Tram und dass du angegriffen wurdest und so.«
»A ch du Schande, Axelle!« Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Sie würde außer sich sein! Ich war die ganze Nacht weg gewesen…
»M elysa hat sie angerufen«, sagte Clio. »S ie weiß, wo du bist. Alles okay. Und ich habe uns heute Morgen in der Schule krankgemeldet.«
Schule war das Letzte, was mich im Moment interessierte. »W ar Melysa die Frau mit den grauen Haaren?«, fragte ich und konnte mich kaum noch daran erinnern, wie sie überhaupt ausgesehen hatte. Ich wusste nur noch, dass sie ruhig und freundlich gewesen war und mir den Schmerz genommen hatte. Ohne Zweifel eine Hexe, dachte ich resigniert.
»J a«, antwortete Clio. »S ie ist eine meiner Lehrerinnen. Eine
Weitere Kostenlose Bücher