Ein Kelch voll Wind
Kopf. »I ch werde dich fahren.«
Sie sah aus, als wolle sie ablehnen, doch dafür war sie dann doch zu vernünftig. »I ch wünschte, ich wäre nie nach New Orleans gekommen«, platzte sie heraus.
Das sehe ich ganz genauso. Meine Haut kribbelte. André hatte es wirklich ernst gemeint, was er zu Thais gesagt hatte. Und ich? Ich war nur die Partymaus gewesen. Vielleicht liebte er sie sogar. Sie.
Er war nicht weggegangen, ehe sie nicht nach unten gekommen war, um mit ihm zu reden. Auch noch draußen auf der Veranda war es ihm um ihr Verständnis gegangen, nicht um meins. Er hatte die ganze Zeit nur mit ihr gesprochen, ihr die Lage erklärt. Oh ja, ich war schön, aufregend und witzig gewesen. Wuuu-huuu. Aber sie hatte ihm etwas bedeutet. Ich fühlte mich, als müsste ich in lauter scharfzackige, traurige Scherben zerspringen.
Ich trank meinen Tee und versuchte, an etwas anderes zu denken. Ohne dass ich es wollte, hatte ich plötzlich das Bild des wimmernden Neugeborenen vor Augen. Warum hatten wir das gesehen? Warum war die Vision so unglaublich real gewesen? Weil wir sie zusammen gehabt hatten?
»W er, meinst du, war das Baby vorhin?«, fragte ich. Thais nahm den Themenwechsel mit einem überraschten Blinzeln zur Kenntnis.
»Ä hm, weiß ich nicht«, sagte sie. »I ch dachte, vielleicht unsere Mom? Dad hat mir erzählt, dass sie dasselbe Muttermal hatte.« Sie berührte sanft ihre Wange. »E r fand es seltsam, dass ich es auch hatte. Muttermale werden für gewöhnlich ja nicht vererbt.«
»A lso glaubst du, dass es real war, was wir gesehen haben?«
Thais blickte überrascht auf. »D u meinst, das war es vielleicht gar nicht? Wie funktionieren diese Dinge denn normalerweise? Siehst du sonst reale Ereignisse oder nur solche, die möglicherweise passieren könnten? Oder vielleicht sogar Dinge, die nie passiert sind und auch nie passieren könnten?«
Ich überlegte. »E in bisschen von allem«, entschied ich. »A ber das vorhin hat sich so wahnsinnig echt angefühlt, echter als sonst. Manchmal ist es eher so, als würde man fernsehen, weil man immer noch wahrnehmen kann, was einen in der wirklichen Welt umgibt. Aber unsere Vision war vollkommen. Ich wünschte, Nan wäre hier, um mit uns darüber zu sprechen.«
»W o ist sie überhaupt? Kommt sie heute Nacht nicht zurück?«
Erstaunlicherweise war es erst zehn Uhr. Es fühlte sich an, als wäre es drei.
Ich schüttelte den Kopf. »S ie musste die Stadt für eine Weile verlassen. Sie sollte in ein oder zwei Tagen wieder da sein.« Hoffte ich zumindest. Beim Gedanken daran, wie ich diese freien Tage– und Nächte– hatte verbringen wollen, biss ich die Zähne zusammen.
»H ast du’s gut«, sagte Thais. »I ch wünschte, Axelle würde die Stadt mal verlassen. Und zwar für eine lange Zeit.« Unvermittelt blickte sie zu mir herüber. »H ast du ihn geliebt?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Sie sah elend aus.
Ich atmete langsam aus. »N ein«, log ich. »I ch habe ihn nur benutzt. Ich fand ihn heiß, verstehst du? Und ich wollte ein kleines Abenteuer. Aber ich bin trotzdem immer noch richtig sauer«, fügte ich hinzu.
Sie nickte. Es war vollkommen offensichtlich, dass sie ihn ebenfalls richtig geliebt hatte. Sie seufzte, und ich konnte geradezu sehen, wie ihr das Herz blutete. Ich fragte mich, ob wir auf irgendeine Weise miteinander verbunden waren. Ich hatte von Zwillingen gehört, die ihre Sätze gegenseitig zu Ende sprechen konnten und zur gleichen Zeit dieselben Dinge taten, obwohl sie sich in verschiedenen Städten befanden.
»K ann ich jetzt nach Hause?«, fragte sie. »U nd bist du sicher, dass ich nicht die Tram nehmen soll?«
»N ein, so spät nicht mehr. Das ist zu gefährlich. Warte noch kurz, dann hol ich meine Tasche. Und ich zieh mich schnell um.« Ich hasste diesen Rock, ich hasste das Shirt. Beides wollte ich nie wiedersehen. Ich lief nach oben und hörte, wie die Eingangstür aufging.
»I ch warte auf der Veranda«, rief Thais. »U m ein bisschen frische Luft zu schnappen.«
»O kay«, rief ich zurück. In meinem Zimmer zog ich mir meine Fitnessshorts und ein altes T-Shirt über. Meine Haare band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Erbärmliche, verzweifelte Gedanken schwirrten um mich herum wie Wirbelstürme. Vielleicht war André immer noch da draußen. Vielleicht würden sie beide weg sein, wenn ich runterkam. Oder vielleicht würde er, nachdem ich Thais abgesetzt hatte, auf der Straße stehen, unglücklich sein, mir sagen, dass
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