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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cate Tiernan
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Gesicht war düster, er atmete schwer und wirkte überreizt, als würden etliche Gefühle in ihm widerstreiten. Er sah aus wie damals, als wir uns ineinander verschlungen geküsst hatten, als ich ihm alles dargeboten hatte und er es fast genommen hätte. Ich sandte ein kurzes Dankgebet aus, dass es nie dazu gekommen war.
    Thais stand vor mir und versperrte mir die Sicht. Als sie ihre Arme um mich legte, sah ich dünne Tränenspuren auf ihren geröteten Wangen. Auch ich umarmte sie und fühlte mich weniger einsam, weniger deprimiert. Ich hatte eine Schwester. Vielleicht hatte ich es erst da richtig begriffen: Ich hatte eine Schwester, für immer. Wir waren vom selben Blut. Wir waren eine einzige Person, die man entzweigeteilt hatte. Wir würden nie wieder alleine sein. Ich hielt diese Erkenntnis für gigantischer und erstaunlicher als je zuvor und meine Augen füllten sich mit Tränen.
    »W ie fandest du es?«, flüsterte ich.
    Ihr Gesicht, das meinem so gruselig ähnlich sah, wirkte feierlich. »E s war… Angst einflößend«, sagte sie endlich. Sie versuchte, sich zu sammeln. »U nd… so wunderschön. Ich wünschte…« Sie brach ab und biss sich auf die Lippen. »I ch wünschte, ich hätte etwas so Schönes, Mächtiges nie erfahren.« Ihr Gesichtsausdruck war beinahe traurig.
    »W ie meinst du das? Ich verstehe nicht.«
    »Z uvor wusste ich nicht, was ich versäumt hatte«, sagte sie sanft. »A ber jetzt weiß ich es. Und nun, da ich es weiß, muss ich es haben. Ich würde alles tun, um es wieder zu fühlen.«
    Ich nickte. Alles, was eine Vorderseite hat, hat auch eine Rückseite. Und je größer das eine, desto größer ist auch das andere. Die Freuden der Magie gingen unweigerlich mit der beschwerlichen Verantwortung einher, sie zu beherrschen. Das Vergnügen, die Zauberkraft anzurufen, wurde von der absoluten Notwendigkeit, genau das zu tun, geschmälert.
    »H ast du irgendwas von den Worten verstanden?«, fragte sie mich.
    Ich nickte. »E in paar, aber sie haben keinen großen Sinn ergeben. ›Ein Kelch voll Wind, ein Ring aus Asche, eine Feder aus Stein, ein Band aus Wasser.‹ In dieser Reihenfolge.«
    Nachdenklich und wie zu sich selbst wiederholte Thais die Worte. »Und du hast k eine Ahnung, was das bedeuten könnte?«
    »N ein, noch nie gehört. Aber wir können Ouida fragen«, erwiderte ich.
    »I ch denke, es ist Zeit.« Ouidas klare Stimme durchschnitt die immer noch zwischen uns verweilende Magie. »Z eit, die Wahrheit zu erfahren. Die ganze Wahrheit.«

Kapitel 35
    Thais
    W ahrscheinlich hatte ich für einen Tag schon genug Wahrheiten gehört. Ich fühlte mich ausgelaugt. Meine Haut glühte von dem Erlebnis gerade eben. Ich wusste nicht, wie genau es passiert war, wo sie hergekommen war oder was »M agie« eigentlich wirklich sein sollte. Ich wusste nur, dass ich sie gefühlt hatte, dass ich ein paar Minuten lang Teil eines Ganzen gewesen war. Ich hatte mich nicht länger einsam gefühlt, mein Schmerz hatte nachgelassen. Wenn das Magie war, konnten die anderen mich gerne dazu verpflichten.
    »K önnen wir wieder runtergehen?«, fragte Manon in ihrer Klein-Mädchen-Stimme. »E s ist so heiß hier oben.«
    Die ganze Wahrheit. Ich dachte daran, wie ich Clio getroffen hatte, an den Moment, als ich begriffen hatte, dass sie und Petra zaubern konnten, wie ich herausgefunden hatte, dass Luc in Wirklichkeit André war, dass auch er magische Kräfte besaß. Ich glaubte nicht, dass ich noch mehr verkraften würde. Konnte ich irgendwie entkommen? Doch Ouida schien einen Plan zu haben und auch Clio wirkte entschlossen.
    Unten angekommen, blickte ich ein paarmal zu Clio hinüber. Jedes Mal betrachtete sie Luc. Ihr Gesicht wirkte ärgerlich, doch ich erkannte noch ein anderes Gefühl darin: Verlangen. Sie hatte gesagt, sie habe ihn nur benutzt, würde ihn nicht lieben. Doch das stimmte nicht. Außerdem hatte sie vermutet, dass er vielleicht hinter den Angriffen steckte. Keine Ahnung. Jedes Mal, wenn ich diesen Gedanken verfolgte, blockierte mein Verstand.
    »S etz dich hierhin, Thais«, sagte Ouida und deutete auf das Sofa. Ich steckte hier fest. Clio setzte sich ans andere Ende der Couch und Richard nahm zwischen uns Platz. Ich konnte es nicht erwarten, seine Geschichte endlich zu hören.
    Axelle, Ouida, Daedalus und Jules sahen einander an, als würden sie stumm austarieren, wer von ihnen beginnen solle. Meine Neugier war von der Furcht durchsetzt, was nun ans Licht kommen würde. Nach dem heutigen Tag würde

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