Ein Kelch voll Wind
unnatürlich schnell. Sie war stark und so gesund wie nur wenige Leute in einer Zeit ohne Antibiotika und Impfstoffe. Aber, noch wichtiger: Ihre Magie wuchs um das ungefähr Hundertfache an.
Die Jahre vergingen. Es hatte immer Menschen gegeben, deren Magie stärker oder authentischer wirkte als die von anderen, doch inzwischen hatte Melita sogar die Besten der Besten in den Schatten gestellt. Es war offensichtlich, dass sie über spezielle Kräfte verfügte. Die Jungen im Dorf verliebten sich reihenweise in sie, doch das war ihr egal. Sie interessierte sich nur für ihre Macht. Sie begann, die Gemeinschaft anzuführen, und zwar sowohl durch schiere Willenskraft als auch durch ihre Zauberei. Die Magie Noir hatte von ihr Besitz ergriffen und anders als bei den Übrigen ließ sie Melita nicht mehr los.«
»S ie studierte die alten Schriften«, sagte Jules leise, »u nd war in Kräuterkunde und Astrologie bewandert. Innerhalb von sieben Jahren wurde sie zur mächtigsten Hexe, die je ein Mensch gesehen hatte. Nach Ablauf der sieben Jahre hatte sie sich einen Plan ausgedacht, der ihre Kraft für immer festigen sollte. Ein Ritual an der Quelle, und dieses Mal sollten ihr zwölf sorgsam ausgewählte Hexen und Hexer zur Seite stehen, die einen Querschnitt aller Fähigkeiten, Neigungen, Altersgruppen, Geschlechter und vieles mehr repräsentierten. Laut ihren Recherchen war das unbedingt notwendig.«
»D a war ein alter Mann«, sagte Daedalus matt, den Blick auf den Boden gesenkt. »D er Älteste der Gemeinschaft. Eine Art Bürgermeister, wenn ihr so wollt.«
»D a war eine mächtige, eigensinnige Frau.« Axelle klang traurig und nicht wie sie selbst.
»D a war eine unberührte, junge Frau.« Auch Sophie schaute niemanden an.
»D a war eine ältere Frau, eine weise Heilerin«, sagte Ouida. »U nd da war eine junge Sklavin.«
»U nd ein weiterer Sklave«, sagte Jules. »A rrogant und ehrgeizig.«
»D a war ein Mädchen«, sagte Manon langsam. »E in Mädchen, das die Pubertät noch nicht erreicht hatte.«
»D a war ein abgebrühter Weiberheld«, sagte Luc lustlos.
Mir stellten sich alle Haare auf und das Blut gefror in meinen Adern. Mein Atem wurde schneller, flacher, und ich erkannte mit Schrecken, welch absurdes Theaterstück sich hier vor meinen Augen abspielte.
»D a war ein Junge.« Richards Stimme war bitter und voller Schmerz. »A uf halbem Weg, ein Mann zu werden.«
»D a war ein unschuldiger, junger Bursche«, meinte Ouida, »d er sehr gefühlvoll und leicht zu beeinflussen war.«
»D a war die Geächtete des Dorfes, eine Frau ohne Moral«, sagte Daedalus voll Abscheu.
»U nd da war Melitas jüngere Schwester Cerise«, fügte Axelle hinzu. »S ie war nicht verheiratet und dennoch schwanger. Niemand wusste, wer der Vater war.«
»D as Kind sollte in zwei Monaten kommen«, erklärte Sophie, den Tränen nahe.
Meine weit aufgerissenen Augen suchten Clio. Stummes Wissen stand in unseren Blicken. Unsere Vision. Sie beschrieben, was wir gesehen hatten. Heilige Scheiße.
»M it verschiedenen Mitteln – Bestechung, Drohung, Nötigung – versammelte Melita die anderen zwölf Hexen und Hexer um sich und vollführte mit ihnen ein Ritual«, sagte Ouida. »W ährend der Zeremonie tranken sie alle von der Quelle und ließen ihre Kräfte ins Unermessliche wachsen, weit über die von Melita hinaus.«
»W ährend des Ritus rief Melita alle dunklen Mächte an, die sie kannte«, sagte Sophie sanft. »M ächte, von denen die anderen nicht einmal gewusst hatten, dass sie existierten. Ihre Magie war so stark, die vereinte Kraft der dreizehn Hexen so gewaltig, dass sie den Zorn des Himmels auf sich zogen.«
Ich musste meine Augenbrauen hochgezogen haben, denn Ouida setzte sogleich zu einer Erklärung an: »E s beschwor eine gigantische Welle der Energie herauf, die Melita und die zwölf Seelen an ihrer Seite durchdrang.«
»E ine dunkle Kraft«, fiel Jules ein.
»E s überraschte uns alle«, sagte Manon mit dünner Stimme. »E s fühlte sich an wie… wie der Anfang und das Ende vom Leben selbst.«
»W as es auf eine gewisse Weise auch war.« Luc klang vollkommen erschöpft.
»N iemand weiß, warum, aber bei Cerise setzten auf einmal die Wehen ein«, fuhr Ouida fort. »A lle anderen von uns glühten vor Energie, aber auf Cerise hatte sie nicht dieselbe Wirkung. Sie bekam Wehen und starb noch bei der Geburt.«
Beinahe hätte ich angefügt: »A ber das Kind überlebte.« Ich dachte an das blasse, schreiende Baby, das
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