Ein Kind, das niemand vermisst
Besuch« Paul stieß die Frau mit dem Fuß an, die augenblicklich hochschreckte. »Was ist los?« Als sie Chloe sah, fiel ihr die Kinnlade herunter. »Sie noch Kind! Du gesagt nicht Kind! Nicht Kind!«
»Ja, ja, reg dich ab. Sie braucht bloß einen Platz zum Schlafen.«
Chloe schluckte immer wieder den Kloß hinunter, der seit geraumer Zeit in ihrer Kehle steckte und nicht verschwinden wollte. »Sei nett zu ihr.« Er gab Chloe einen Klaps auf die Schulter und zwinkerte ihr zu, bevor er wieder nach oben verschwand. Chloe stand einfach da und starrte auf die Frau, die nun die Decke beiseite schob und aufstand. Sie war klein und zierlich mit großen braunen Augen und Rastazöpfen, die ihr bis zu den Hüften reichten. »Was machst du hier?«, fragte sie in schroffem Ton. »Kein Platz für kleines Mädchen. Hier nichts gut.« Sie ging zum Etagenbett, auf dem zahlreiche Klamotten verstreut lagen, fischte eine Strickjacke heraus und zog diese über ihre dünnen Ärmchen. Sie trug lediglich ein bauchfreies Top und einen Rock, der so breit wie ein Gürtel war. Chloe hatte einen ähnlichen Rock einmal an Libby gesehen und ihn scheußlich gefunden.
»Ich kann nicht nach Hause, da ist es gefährlich«, sagte sie kaum hörbar und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, ohne die Frau dabei aus den Augen zu lassen. »Hier noch viel gefährlicher, Kleine.«
Chloe zuckte die Schultern. »Ich bin so müde«, sagte sie und merkte plötzlich, wie sehr ihre Augen brannten. Ihr ganzer Körper fühlte sich taub an.
»Wie heißt du?«
»Chloe.«
»Ich bin Abena. Du kannst schlafen hier oben. Eigentlich ist Nerminas Bett, aber sie schlaft immer oben bei Paul.«
Chloe nickte und half Abena die Kleidungsstücke vom oberen Bett aufs untere zu werfen. Sie war froh, sich endlich hinlegen zu können, auch wenn sich die Matratze klamm anfühlte und die Decke voller Löcher war und nach abgestandenem Rauch stank. Sie merkte gar nicht mehr, wie Abena ihr die Schuhe auszog. Sie war längst eingeschlafen.
Als sie aufwachte, war sie allein. Vor dem Kellerfenster hing ein schwarzer Vorhang, so dass sie nicht sagen konnte, ob es Tag oder Nacht war. In der Waschküche brannte eine kleine Lampe über einem Spiegel. Chloe streckte sich, gähnte ausgiebig und stieg langsam vom Etagenbett herunter. Ihr Magen knurrte unaufhörlich und sie hatte Durst, doch sie traute sich nicht nach oben zu Paul zu gehen. Sie entdeckte ihren Rucksack an einem Haken neben dem Spiegel, öffnete ihn und fand eine kleine halbvolle Flasche Fanta, die sie in einem Zug austrank. Doch das Durstgefühl blieb, ebenso wie der knurrende Bauch. Unruhig ging sie im Raum umher.
Die Kellertür wurde geöffnet und im schwachen Kegel des einfallenden Lichts, tanzten abertausende Staubflocken vor ihrem Gesicht. Sie schlug nach ihnen, wie nach lästigen Insekten und hörte erst damit auf, als sie Richie vor sich sah. In einem dunklen Kapuzenpullover grinste er sie an und hielt eine Brötchentüte in die Luft. »Ich habe Frühstück mitgebracht«
»Wie spät ist es?«
»Erst halb acht.« Er drückte ihr die Tüte in die Hand und sie packte gierig ein Sandwich aus, das sie innerhalb weniger Minuten aufgegessen hatte.
»Wie hast du geschlafen? Gut geträumt?« Richie setzte sich auf das untere Etagenbett.
»Ich glaube ich habe nichts geträumt«, sagte sie und ließ sich auf die Matratze fallen. Erst jetzt bemerkte sie den großen Rucksack, den er mitgebracht hatte.
»Die Mädchen kommen immer erst gegen zehn oder so von der Arbeit zurück.«
»Wo arbeiten sie denn?«
»Hier und da. Auf der Straße, im Hotel, du weißt schon.«
»Was ist in dem Rucksack?«
»Du weißt ja, die Miete hier kostet 30 Kröten. Und ich hab's ja auch nicht so dicke, weißte. Also hab ich mir Gedanken gemacht, wie du mir das Geld zurück zahlen kannst. Ich muss am Monatsende nämlich noch einen Haufen Rechnungen bezahlen, zu verschenken habe ich also nichts.«
Chloe nickte nur. Sie spürte wie ihr Hals trocken wurde. Richie öffnete den Rucksack und zog eine weiße Plastiktüte heraus, die er ihr zuwarf. »Für dich.«
Vorsichtig guckte sie in die Tüte und zog einen hellblauen Bikini heraus.
»Der müsste passen, oder? Hab der Verkäuferin deine Größe und Figur beschrieben und sie gab mir den.«
Verwundert blickte Chloe zu ihm hoch. »Gehen wir schwimmen?«
Er lachte. »Nein, nein. Wir machen Fotos. Jedes Mädchen träumt doch davon Fotomodel zu werden, oder nicht?«
»Für einen
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