Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
? Wer war sie? Seine Frau, seine Freundin? Wo war sie? Und warum? Zweifellos war sie der Schlüssel zu dem Geheimnis, zu jener Schwermut, die ihr an Mr. Lockwood schon am ersten Tag aufgefallen war, als sie sich auf sein Inserat hin gemeldet und er sie engagiert hatte. Doch ihr angeborenes Anstandsgefühl verbot es Mrs. Harris, von diesem Schlüssel Gebrauch zu machen.
Ada Harris gehörte zu der allmählich aussterbenden Gattung von Londoner Reinmachefrauen, die, früher für fünf Shilling, inzwischen für fünfzig Pence die Stunde Wohnungen und Büros auf Hochglanz brachten. Da Ada das Leben anderer Menschen glühend interessierte, hatte sie sich auf Wohnungen spezialisiert, denn wo sonst hätte sie einen besseren Einblick in ein fremdes Leben gewinnen können? Ihre Arbeitgeber stellten bald fest, daß sie nicht nur eine äußerst gewissenhafte Arbeitskraft war, sondern auch über einen schier unglaublichen Vorrat an Weisheiten und praktischer Lebenserfahrung verfügte, kurzum, daß sie einen gesunden Menschenverstand besaß. Sie wußte unglücklich Liebende zu trösten, konnte auf Anhieb die besten Friseure und Geschäfte sowie die preisgünstigsten Läden aufzählen, half Eheprobleme zu lösen, war stets auf dem laufenden, was die letzten Pressemeldungen über Hochzeiten, Scheidungen und Gesellschaftsskandale betraf, und gehörte zu jenem Geheimbund von Putzfrauen, die untereinander den üppigsten, aus erster Hand bezogenen Klatsch austauschten, der nicht den Weg in die Zeitungsspalten fand.
Sie schnüffelte jedoch nicht herum, wie sie selbst gesagt hatte, noch horchte sie ihre Kunden aus oder steckte ihre Nase in deren persönliche Angelegenheiten. Doch sobald jemand ihr sein Herz ausschütten wollte (gewöhnlich tat das die Dame des Hauses) oder sie um Rat fragte, war Ada ganz Ohr. Auf den Stiel ihres Mops gestützt, hörte sie zu, legte ihre Ansichten dar und redete ohne Punkt und Komma eine halbe bis eine Dreiviertelstunde auf ihr Gegenüber ein. Nichts war ihr lieber als so ein richtiger Schwatz von Frau zu Frau, nicht selten zum heftigen Leidwesen ihrer Arbeitgeberinnen, die dringend zur Kosmetikerin oder zur Schneiderin mußten und an das tickende Taxi dachten, das draußen auf der Straße wartete. Mrs. Harris stellte nie eine direkte Frage — man mußte sich ihr schon freiwillig eröffnen.
Zu seiner nicht geringen Überraschung bemerkte Mr. Lockwood, daß er im Begriff war, eben dieses zu tun. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, und nachdem er einen kurzen, düsteren Blick auf die elektrische Schreibmaschine geworfen hatte, sagte er: «Sie ist Fremdenführerin bei Intourist in Moskau. Ich habe sie bei meiner letzten Reise kennengelernt, als ich wegen des Buches Rußland ohne Maske dort war.»
Ada Harris traute ihren Ohren nicht. Der Mann, bei dem sie von Anfang an ein Geheimnis vermutet hatte, der ihre Dienste kaum zur Kenntnis nahm und jeden Versuch, ihn zu bemuttern, ablehnte, schien plötzlich bereit, sich alles von der Seele zu reden. Lockwood spürte, ohne daß ihm das bewußt wurde, den Drang, sein Herz zu erleichtern. Ausgelöst hatte dieses Bedürfnis wahrscheinlich die Fotografie, die er die ganze Zeit zwischen seinen Sachen verborgen gehalten und jetzt hervorgeholt hatte, als er glaubte, es gäbe Hilfe für ihn und seine Sorgen. Die brüske Weigerung des Foreign Office, irgend etwas in seiner Angelegenheit zu unternehmen, hatte seine hochfliegenden Hoffnungen und Pläne zunichte gemacht. Mrs. Harris’ Verhalten und die ganze, so unglücklich verfahrene Situation — all das stürmte nun auf ihn ein, und so war er bereit, sich jemandem zu eröffnen. Und wo wären diese Eröffnungen besser aufgehoben gewesen als bei einer halb anonymen Reinmachefrau, die an jedem Werktag zwischen neun und elf Uhr mit Besen, Eimer, Schrubber und diversen Reinigungsmittel erschien, um sich seiner Junggesellenwirtschaft anzunehmen und dann wieder ins Nichts zu entschwinden?
«Sie ist Fremdenführerin bei Intourist», wiederholte er. «Sie heißt Lisaweta Nadjeschda Borowaskaja, aber ich nannte sie Liz.» Und dann schoß ihm ein Satz durch den Kopf, den er fast unbewußt aussprach: «Es war wohl so, daß wir beide plötzlich lichterloh brannten.» Als er seiner atemlos lauschenden Zuhörerin einen Blick zuwarf, wurde er plötzlich verlegen, sprach aber weiter, nun mit ruhigerer Stimme. «Nein, so war’s eigentlich gar nicht. Ich meine, wir wollten heiraten. Ich war noch nie jemandem wie ihr
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