Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
glauben.»
«Was sollte sie sonst glauben?» rief Lockwood. «Es ist doch eine geradezu klassische Situation. Denken Sie an Madame Butterfly.»
«An wen?»
«Schon gut», sagte Lockwood. «Auch der Mann versprach etwas und kam nicht wieder. Einer der ältesten Tricks in diesem Spiel.»
Mrs. Harris wußte nichts von dem Treuebruch, den Lieutnant Pinkerton an der armen Cho-Cho-San begangen hatte, und so war sie rasch mit einem neuen Ratschlag bei der Hand. «Kopf hoch, Mr. Lockwood. Sie dürfen sich von so etwas nicht unterkriegen lassen. Sie sind doch ein gescheiter Kopf. Schreiben Sie ihr einen Brief.»
Lockwood schüttelte mutlos sein Haupt. «Das hätte keinen Sinn», sagte er. «Alle Post aus dem Ausland geht durch die Zensur. Beim kleinsten Hinweis darauf, daß sie mit mir Kontakt hatte, würde man sie verhaften. Sie würde ihren Job verlieren, wenn nicht Schlimmeres, und endlosen Belästigungen ausgesetzt sein.»
Nun sah Mrs. Harris das ganze Ausmaß der Verzweiflung, unter der Mr. Lockwood litt, und ihr warmes, mitfühlendes Herz empfand mit ihm. «Bei Gott!»sagte sie. «Sie armer Mensch. Das ist wohl alles sehr schlimm für Sie, nicht wahr?»
«Es geht nicht um mich», rief Lockwood aus. «Es geht um sie! Sie muß glauben, ich hätte sie wie jeder x-beliebige Schuft im Stich gelassen. Sie ist so unschuldig wie ein Kind.»
«Und was ist mit Ihren Freunden im Foreign Office?» fragte Mrs. Harris. «Sagten Sie nicht, daß...»
Doch damit erreichte sie lediglich, daß Lockwood einen neuen Wutanfall bekam; er hieb mit der Faust auf den Tisch und schrie: «Diese gottverfluchten Heuchler! Bis gestern hieß es, sie könnten etwas für mich tun. Nur deshalb habe ich ihr Bild hervorgeholt und gewagt, es wieder anzusehen. Und heute morgen dann eine glatte Kehrtwendung. Weil die politische Lage sich geändert hat. »
Die ganze Ausweglosigkeit der Situation lag offen zutage. Versuchte er, Kontakt mit ihr aufzunehmen, geriet sie in Schwierigkeiten. Tat er es nicht, mußte sie glauben, daß der Mann, den sie liebte, sie grausam verlassen hatte, und inzwischen starben zwei Liebende, für immer getrennt, an gebrochenem Herzen.
Mrs. Harris, gerührt bis in die Tiefen ihrer Seele und den Tränen nahe, sagte: «Mein Gott, Mr. Lockwood, wenn ich Ihnen doch helfen könnte!»
«Niemand kann mir helfen», sagte Lockwood düster. Er griff nach dem Foto, zog die Schreibtischschublade auf und wollte es hineinlegen.
Mrs. Harris sagte: «Tun Sie das nicht. Lassen Sie es dort stehen. Man weiß nie, was noch kommt. Das Bild wird Ihnen helfen, den Mut nicht zu verlieren.»
Er stellte es wieder an seinen Platz zurück, und beide verfielen für kurze Zeit in tiefes Nachdenken. Mrs. Harris überließ sich Phantasiegebilden, die sie oft überkamen, wenn jemand sich in Schwierigkeiten befand und sie sich gedrängt fühlte, helfend einzugreifen. Die Träumereien, die ihr durch den Kopf gingen, waren weit davon entfernt, vernünftig oder praktikabel zu sein. Im Geiste sah sie sich hinter jener Festungsmauer einer Gruppe von Männern gegenüber, denen sie gehörig die Meinung sagte, weil sie ein verzweifeltes Liebespaar nicht zueinanderkommen ließen. Dann wieder sah sie sich vor Mr. Lockwoods Wohnungstür stehen und auf den Klingelknopf drücken, neben ihr stand Lisaweta Sowieso oder Liz, wie er sie genannt hatte, und als die Tür geöffnet wurde, sagte sie nur: «Hier ist sie, Mister Lockwood. Ich war in Rußland und habe sie Ihnen mitgebracht.»
Lockwood räusperte sich, griff nach seinem Manuskript und sagte: «Ja, also...»
Mrs. Harris hatte ein feines Ohr für Andeutungen. Sie sagte: «Es wird Zeit, daß ich mich verabschiede», und sie suchte ihre Siebensachen zusammen, um zu ihrem nächsten Stelldichein mit Staub, Kehricht und einem großen Berg schmutzigen Geschirrs aufzubrechen.
2
Auf dem Nachhauseweg kreisten Mrs. Harris’ Gedanken an diesem späten Samstagnachmittag unausgesetzt um Mr. Lockwoods tragische Situation, und auch, als sie sich mit ihrer Busenfreundin, Mrs. Violet Butterfield, zur allabendlichen Tasse Tee und einem ausgiebigen Schwatz zusammensetzte, war sie noch immer trüber Stimmung.
Busenfreundin war genau die passende Bezeichnung für Mrs. Butterfield, denn sie war ebenso rundlich und wohlbeleibt wie Mrs. Harris dünn und schmächtig war. Auffallend klein in ihrem Vollmondgesicht waren nur der Mund über dem dreifachen Kinn
Weitere Kostenlose Bücher