Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
«Nichts. Nur ein Brief.»
Wäre Mrs. Butterfield mit Alarmglocken behängt gewesen, hätte es jetzt geklungen, als raste ein Dutzend Feuerwehrwagen zum Einsatz. «Ein Brief», rief sie. «Für wen? Was steht da drin? Warum steckst du ihn in deine Handtasche? Weshalb war er in der Suppenterrine versteckt? Ada Harris, was verheimlichst du mir da?»
Normalerweise hätte Mrs. Harris auf diese inquisitorischen Fragen entweder eine patzige Antwort gegeben oder es vorgezogen zu schweigen. Doch da sie noch immer leichte Gewissensbisse fühlte, daß sie ihre Freundin in ein Land mitschleppte, in das sie gar nicht wollte, besann sie sich. Es war ihr nicht entgangen, daß Mr. Lockwood die geplante Briefübergabe unbehaglich war und er sie nur ungern mit dieser Mission belastete. Und nicht genug damit — es standen hier auch ethische Grundsätze auf dem Spiel, von denen Mrs. Harris auf keinen Fall abweichen wollte. Sie hatte neulich ihrer Freundin zum Vorwurf gemacht, daß sie versucht hatte, ihr die Schließung des Nachtclubs zu verheimlichen, und jetzt beabsichtigte sie, Ada Harris, Mrs. Butterfield gegenüber zu verheimlichen, daß sie sich als Postillon d’amour für Mr. Lockwood betätigte.
«Nun rauf dir nicht gleich die Haare», sagte sie, «das steht gar nicht dafür. Es handelt sich um einen Brief von Mr. Lockwood an ein Mädchen in Moskau, das er über alles liebt und mit dem er sonst nicht in Verbindung treten kann. Die beiden sind schon halbtot vor Kummer und Sehnsucht.» Und sie erzählte Violet in aller Kürze von dem Schicksal, das Geoffrey Lockwood und seine Liz erleiden mußten.
Mrs. Butterfield kam gar nicht dazu, sich die Haare zu raufen — sie standen ihr bereits zu Berge. Mit ausgestrecktem Zeigefinger näherte sie sich Mrs. Harris und sagte laut und vernehmlich: «Ada Harris, du legst diesen Brief sofort dorthin zurück, wo du ihn hergeholt hast. Hast du denn auf deine alten Tage den Verstand verloren? Du mußt doch wissen, was in Rußland mit Leuten geschieht, die heimlich irgendwelche Briefe einschmuggeln? Ich sehe uns schon für den Rest unseres Lebens bei Wasser und Brot eingesperrt. Ich habe gerade gelesen, daß man nicht mal eine Bibel mitnehmen darf. Und wenn sie schon bei Gottes Wort so streng sind, und sie finden bei uns einen Brief... Nicht auszudenken. Entweder legst du ihn sofort wieder zurück, oder du kannst allein fahren!» Und wie zur Bekräftigung ihres Entschlusses hob sie beide Arme und griff nach ihrem Hut.
Der Gedanke an den laufenden Taxameter steigerte Adas Erbitterung, und sie sagte aufgebracht: «Violet Butterfield, du bist eine dumme Gans. Ich habe keine Bibel bei mir und du auch nicht. In diesem Brief steht nichts, was nicht jeder lesen könnte. Und außerdem steht weder Name noch Adresse auf dem Umschlag, und eine Unterschrift trägt er auch nicht. Da hat einfach ein armer Teufel dem Mädchen, das er liebt und längst verloren glaubte, sein Herz ausgeschüttet. Ich habe ihr Foto gesehen und weiß von ihr weiter nichts, als daß sie Liz heißt und daß sie unsere Fremdenführerin sein wird. Wenn wir einen Augenblick unbeobachtet sind, steck ich ihr den Brief zu. Was soll daran Schlimmes sein?» Den Gedanken, was Mrs. Butterfield wohl sagen würde, wenn sie auch nur im geringsten ahnte, was ihre Freundin Ada Harris insgeheim plante, sobald sie mit Liz Kontakt aufgenommen hätte, schob sie beiseite. Statt dessen griff sie nach ihren Gepäckstücken, ging in Richtung Wohnungstür und ließ Mrs. Butterfield stehen, wo sie stand — mitten im Zimmer. Somit sah sich leztere zu einer recht unrühmlichen Kapitulation genötigt; sie griff nach ihrem Gepäck und folgte Mrs. Harris auf die Straße, wobei sie unentwegt vor sich hin murmelte: «Der reine Selbstmord, nichts anderes. Völlig plemplem. Jeden Tag berichten die Zeitungen von Leuten, die hinter dem Eisernen Vorhang mit verdächtigen Papieren erwischt wurden. Das kann zu nichts Gutem führen.»
Im Taxi brummelte sie immer weiter, bis Ada schließlich sagte: «Vi, bitte hör jetzt auf. Schließlich wollen wir uns auf dieser Reise amüsieren.» Darauf saßen beide den ganzen Weg bis zum Flugplatz schweigend nebeneinander — ein nicht gerade vielversprechender Auftakt für sorglose Urlaubstage. Mrs. Butterfield ließ Mrs. Harris’ Handtasche nicht aus den Augen. Sie schien zu glauben, es sei eine Bombe darin.
Zur damaligen Zeit war Heathrow Airport selbst für erfahrene Reisende eine Nervenprobe. Als die beiden Damen
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