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Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau

Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau

Titel: Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Gallico
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Angst. Ich komme besser nicht mit.»
    «Halt den Mund», zischte Mrs. Harris. «Komm!» In diesem Augenblick spürte sie, daß sie um nichts in der Welt den Raum betreten würde ohne ihre alte erprobte, treue, pessimistische Freundin an ihrer Seite. Und dann waren sie drin und wurden von zehn Paar Augen in zehn verschiedenen Köpfen, die auf zehn Paar Schultern saßen, prüfend gemustert, von vier Frauen und sechs Männern, die um einen langen Tisch herum saßen, und vor jedem lagen ein Notizblock und ein Bleistift. Mr. Aldershot stellte Mrs. Harris den Anwesenden vor, aber sie verstand fast keinen Namen und konnte sich nur an einen erinnern, der Smyce hieß und an der Spitze des Tisches saß und vor dem Aldershot sie gewarnt hatte: «Wir werden es vielleicht mit ihm nicht ganz leicht haben.»
    Mr. Smyce war ein kleiner Mann, in einem Anzug, der eine Nummer zu groß für ihn war, und er trug einen Schlips in den Farben seiner alten Schule. Er hatte ein langes, bläuliches Kinn, einen großen Mund und unstete Augen, die nie auf einem Gegenstand oder einer Person zu ruhen schienen. Mrs. Harris’ Achtung vor Aldershot stieg. Bruder Smyce war nur allzu deutlich anzusehen, daß er ein Unruhestifter war. Aber der Anblick der anderen neun am Tisch tröstete und erleichterte sie, denn sie kannte jeden von ihnen. Nicht persönlich natürlich. Weit entfernt davon. Sie waren ihr alle fremd, aber es spielte keine Rolle mehr, daß sie ihre Namen nicht hatte verstehen können. Sie waren nur schlichte gewöhnliche Leute. Die Frauen waren entweder wie jene, bei denen sie täglich eine Stunde arbeitete oder neben denen sie im Laden beim Einkäufen stand. Sie hatte sie alle irgendwann einmal in ihrem Leben gesehen und gekannt; Frauen aus der Mittelklasse, kleine Geschäftsleute, jüngere Angestellte. Der schmächtige Mann am unteren Ende des Tisches konnte nichts anderes als Bankbeamter sein. Die straffe Haltung des älteren Herrn, der in der Mitte saß, ließ darauf schließen, daß er ein pensionierter Offizier war.
    Nun, sie kannte solche Menschen. Sie sahen weder freundlich noch unfreundlich aus, aber sie glaubte einen Ausdruck angenehmer Überraschung wahrzunehmen, als Mr. Aldershot sie ihnen als «Mrs. Harris, eine populäre Bewohnerin von East Battersea, die sich bereit erklärt hat, sich als Kandidatin unserer Partei für die nächste Wahl zur Verfügung zu stellen», vorstellte.
    Wenn dies die Jury war, die über sie zu befinden hatte, dann würde sie jedenfalls zu ihnen sprechen können, denn sie hatte schon früher lange Gespräche mit Leuten wie diesen in Häusern, Wohnungen, Supermärkten oder sonstwo geführt, und im großen und ganzen hatten sie alle die gleichen Probleme. Sie trugen die gleichen bleiernen Schuhe wie sie in dem nie endenden Wettlauf mit den ewig steigenden Lebenskosten und dem Versuch, am Ende des Jahres wenigstens so durchs Ziel zu gehen, daß Steuer und Bankkonto sich das Gleichgewicht hielten.
    Nachdem der «Offizier», der offenbar der Vorsitzende war, sie begrüßt hatte, sagte er: «Wie wäre es, wenn Sie uns in Ihren eigenen Worten sagten, Mrs. Harris, warum Sie glauben, daß Sie als Kandidatin dieses Wahlbezirks Erfolg haben würden. Danach werden wir Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, wahrscheinlich eine oder zwei Fragen stellen.»
    Zuversichtlich und heiter, und ohne sich lange zu zieren, legte sie ihre Theorie von «Leben und leben lassen» dar und sagte, daß es mit der seelenzerstörenden wirtschaftlichen Spirale ein Ende haben müsse, wenn jemals Glück oder Entspannung ins Land einziehen sollten. Es fiel ihr leichter, mit ihnen zu sprechen als mit Sir Wilmot Corrison, denn sie kannte ihr Leben sehr viel besser als seins, und sie standen ihr alle viel näher.
    So konnte sie alle überflüssigen Worte vermeiden und sich unmittelbar an sie wenden. Sie sagte zum Beispiel zu der mütterlich aussehenden Frau: «Sie, Madam, und Ihr Mann müssen sparen, damit Ihre Kinder eine gute Schule besuchen können, und wenn es soweit ist, was haben Sie dann? Halb soviel, wie Sie brauchen, weil die Preise wieder einmal erhöht worden sind. Und wie ist es mit denen, die von einer Pension leben?» Und ihre scharfen, kleinen Augen schweiften zu dem «Offizier» hin und blickten ihn eine Sekunde lang eindringlich an, ehe sie fortfuhr: «Wer kümmert sich um sie? Und was geschieht, wenn nicht genug Geld da ist, um die Rechnungen zu bezahlen? Wie ist es mit den jungen Ehepaaren, wenn sie ihre ersten Kinder

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