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Ein kleines Stück vom Himmel nur

Ein kleines Stück vom Himmel nur

Titel: Ein kleines Stück vom Himmel nur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amelia Carr
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als sei sie immer schon so gewesen, wie sie heute ist. Als Kind habe ich mir immer gern die Geschichten über ihre ungewöhnliche Kindheit angehört, als sie mit ihren Eltern und dem Luftzirkus durchs Land zog und im Krieg für die ATA in England Pilotin war. Aber das waren für mich eben bloß Geschichten – sie hatten in etwa so viel mit der Wirklichkeit zu tun wie die Bücher, die ich las, oder die Filme, die ich mir anschaute. Und Nancy war die Heldin, eine eindimensionale Kunstfigur, eine Abbildung auf alten Fotos, die nur wenig Ähnlichkeit mit der Nancy hatte, die ich kannte – oder zu kennen glaubte. Ich hatte mir nie die Mühe gemacht, an der Oberfläche zu kratzen und genauer hinzuschauen. Ich hatte stets nur das gesehen, was sie mich sehen ließ, und mich mit dem einfachsten Strickmuster zufriedengegeben.
    Vielleicht hatte ich Komplizierteres auch gar nicht sehen wollen. Schließlich ist es auch nicht angenehm festzustellen, dass Grandma Nancy womöglich die gleichen stürmischen Gefühle hat wie ich, Gefühle, die ich auch nicht gern der Welt offenbaren würde, oder dass sie als junge Frau die gleichen Leidenschaften und Zweifel durchlebt hat, Momente der Verzückung ebenso wie der Verzweiflung. Und noch weniger angenehm ist die Vorstellung, dass sie diese Emotionen vielleicht sogar heute noch verspürt, möglicherweise gedämpfter, aber darum nicht weniger stark, das Verlangen ihrer Jugend, das ihr durch all die Jahre gefolgt ist, in einen welken, verdorrten Körper. Dass diese Empfindungen die ganze Zeit über da waren, tief in ihrem Herzen begraben, während sie kochte und putzte, ihre Kinder erzog und ihr Leben als Ehefrau von Grandpa Joe und Mutter meiner Mutter führte, hat mir einen gewaltigen Schock versetzt.
    Nun fallen mir wieder die winzigen Hinweise ein, die ich zwar gesehen, denen ich aber keinerlei Bedeutung zugemessen habe: dieser abwesende Blick, den sie ab und zu ohne erkennbaren Grund bekam; ein leichtes, stilles Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte und sie plötzlich wieder jung aussehen ließ. An einen Vorfall erinnere ich mich noch besonders gut.
    Es war 1995, und sie besuchte uns in England. Ich weiß, dass es 1995 war, weil im Radio und Fernsehen ständig Programme liefen, die sich mit dem Kriegsende vor fünfzig Jahren beschäftigten. Eine spezielle Sendung lief im Lokalfunk – Interviews mit Kriegsveteranen, unterbrochen von Musikstücken aus der Zeit: Vera Lynn, Gracie Fields, Glenn Miller. Dad, der immer schon ein eingefleischter Radiohörer war, hatte die Sendung angeschaltet und war dann nach draußen gegangen, um den Rasen zu mähen. Mum kam hereingefegt wie ein Wirbelwind, schnalzte missbilligend und wollte das Radio wieder ausstellen.
    Â»Nein, lass es doch an!«, sagte Nancy. Sie arrangierte gerade ein paar Dahlien, die sie im Garten gepflückt hatte, in einer Vase, die ich zu Schulzeiten selbst getöpfert hatte und die Mum wie durch ein Wunder tatsächlich aufbewahrt hatte. Normalerweise neigt meine Mutter nicht zu solchen Sentimentalitäten.
    Â» So laut? Das kann man ja noch eine Straße weiter hören!« Mum drehte die Lautstärke ein bisschen herunter und eilte dann wieder mit sauertöpfischer Miene davon.
    Ich war gerade dabei, in meiner Tasche nach einer Nagelfeile zu suchen, denn ich hatte mir einen Nagel eingerissen. Ich schaute auf und begegnete Grandma Nancys Blick, und einen Moment lang herrschte zwischen uns ein stummes Einverständnis: eine Art ironisch-amüsiertes Zwinkern, gepaart mit einem Unterton der Verzweiflung: Reg dich ab, Mum! Ich fand die Feile und feilte den eingerissenen Nagel.
    Ich hörte nicht wirklich auf die Radiomusik, sie rieselte eher an mir vorüber, obwohl ich das Lied kannte, das gerade gespielt wurde: For All We Know, We May Never Meet Again. Als ich kurze Zeit später wieder aufblickte, stand Grandma Nancy immer noch still neben der Spüle – jedenfalls ihr Körper, denn sie schien sich in einer Art Trance zu befinden. Sie verharrte so regungslos wie eine Statue, in der einen Hand die Blumenschere, in der anderen die violetten Dahlien, den Kopf zu einer Seite geneigt, die Augen halb geschlossen; einen Mundwinkel hatte sie emporgezogen, halb Lächeln, halb starre Grimasse.
    Â»Grandma – alles in Ordnung?«
    Sie schien mich gar nicht zu hören, oder wenn sie es tat, so antwortete sie

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