Ein König für Deutschland
dass man besser nicht versuchte, aus der Reihe zu tanzen. Man verstand, was von einem erwartet wurde, und auch, dass man gut daran tat, diesen Erwartungen gerecht zu werden.
Es gab kein morgendliches Durchzählen. Dank der Fußbänder mit den elektronischen Sensoren war der Aufenthaltsort jedes Insassen zu jedem Zeitpunkt bekannt. Zusätzlich waren alle Räume und Flure unübersehbar mit Videokameras und Bewegungsmeldern ausgestattet. Niemand tat in diesem Gefängnis einen unbeobachteten Schritt.
Den Tag verbrachte man in einer der Werkstätten an dem Platz, der einem zugewiesen wurde. Vincents Job war es, Filter zusammenzusetzen. Zusammen mit einem Dutzend anderer,die die gleiche Arbeit taten, saß er in einer luftigen, halbrunden Halle an einem hellbeigen, geschwungenen Tisch. Jeder hatte Kartons mit verschiedenen vorgestanzten Teilen vor sich. Watteflauschige weiße Einlagen waren im Wechsel mit kratzigen, schwarzen Zwischenschichten auf eine bestimmte Weise in einen Plastikrahmen zu legen, anschließend kam ein Deckel darauf. Die Endprodukte stapelte man in Plastikkisten, die ab und zu von jemandem aus einer anderen Gruppe abgeholt wurden, die die fertigen Filter in Plastikfolie verschweißte und versandfertig machte.
Alles verlief in ruhiger Atmosphäre, beinahe schweigsam. Irgendwann läutete es zum Mittagessen. Dann wieder Arbeit. Dann zurück in die Zelle, wo das Licht um halb zehn abgeschaltet wurde.
Und am nächsten Tag dasselbe, in derselben Weise.
In manchen Momenten fühlte sich Vincent an alte Science-Fiction-Filme wie »Logan’s Run 66 «, »Gattacca« oder »THX 1138« erinnert. Das Leben in der Zukunft – das sah in solchen Filmen oft genauso aus: Alle Menschen trugen praktische Overalls in einheitlichen Farben, bewegten sich ruhigen Schrittes in großen, hellen Räumen von überwältigender Schlichtheit und gingen leidenschaftslos ihren Aufgaben nach.
Das war es. Er war nicht im Gefängnis, er war in der Zukunft. Jeder wusste, was er zu tun hatte, und tat es. Alles war wohlorganisiert, nichts Unvorhergesehenes geschah.
In gewisser Weise, sagte sich Vincent, war dies die vollkommene Welt.
***
Es funktionierte genau so, wie Alex es vorhergesagt hatte: Innerhalb von einer Woche hatten sie beinahe eintausend Mitgliedsanträge zusammen, aus allen Teilen Deutschlands.
Simon war beeindruckt. Er half, die notwendigen Briefe zuverfassen und die Formulare auszufüllen, sie schickten alles ab, und der Alltag kehrte zurück.
Bald vergingen ganze Tage, ohne dass Simon an seine seltsamen jungen Freunde und ihr ehrgeiziges Vorhaben dachte, geschweige denn daran, dass er Mitglied Nummer 1 einer in Gründung befindlichen Pseudo-Partei war. Manchmal rief Lila spätabends an und berichtete, wie sie Vincent im Gefängnis besucht hatte und dass es ihm gut gehe; ein schöner, moderner Bau sei es, in dem es sehr zivilisiert zugehe; eher wie in einer Klinik als wie in einer Strafanstalt. Botschaften auszurichten hatte sie keine mehr. Simon überlegte, ob er Lila beauftragen sollte, Vincent von ihrem Vorhaben zu erzählen, entschied sich dann aber dagegen: Nicht nur, dass es zu kompliziert gewesen wäre, den springenden Punkt des Plans zu übermitteln, auch das Risiko, dass dabei etwas durchsickerte und ihr Projekt dadurch schiefging, war zu groß – wobei Simon vor allem die Gefahr fürchtete, dass Vincent doch noch wegen Computerkriminalität angeklagt werden konnte.
Stattdessen machte er sich daran, seinem Sohn in die Haft zu schreiben. Es dauerte ewig, bis er den Brief fertig hatte, und war eine schlimme Quälerei, weil er nicht wusste, was er ihm eigentlich sagen sollte. Am Schluss war es ein ziemlich nichtssagendes Schreiben, das er eintütete und zur Post brachte, um die Sache endlich vom Tisch zu haben.
Und eines Tages rief abends nicht Lila an, sondern Alex: Es sei Post gekommen, vom Büro des Bundeswahlleiters. Die VWM sei als Partei anerkannt und werde auf dem Stimmzettel zur Bundestagswahl stehen! Das müsse man feiern, meinte Alex. Sie seien dabei, eine kleine Party auszurichten; ob er nicht auch Lust habe zu kommen?
65 Im Jahr 2007 waren in den USA 7,4 % der insgesamt 1,6 Millionen erwachsenen Strafgefangenen in von Privatfirmen geführten Gefängnissen untergebracht. Die drei größten Unternehmen auf diesem Gebiet sind die Correction Corporation of Ameria (CCA), die Geo Group und die Cornell Company.
66 Deutscher Titel: »Flucht ins 23. Jahrhundert«, 1976.
KAPITEL 30
A ls Simon bei Alex
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