Ein König für Deutschland
jemanden in meinem Alter?«
»Wieso?«, meinte der. »Ich finde das großartig.«
Wow , dachte Leo und hätte sich beinahe geschnitten.
»Ist das eins dieser Bücher?«, fuhr Simon König fort und beugte sich über das Buch, das aufgeschlagen auf der Anrichte lag. Er inspizierte den Titel, und Leo hatte das Gefühl, zu erröten. Und er hatte es noch wegräumen wollen, die ganze Zeit …!
»Rebecca Gablé, ›Das zweite Königreich‹«, las der weißhaarige Mann halblaut. »Wohl eher kein Buch über Wein. Was ist das? Ein historischer Roman?«
»Meine zweite heimliche Leidenschaft«, blieb Leo nichts anderes übrig, als zu gestehen. »Sie lachen sicher über diese Art Bücher, nicht wahr? Weil das, was in solchen Romanen beschrieben wird, vermutlich zum größten Teil gar nicht stimmt.«
»Wie es wirklich gewesen ist, weiß sowieso niemand«, meinte Simon König, während er ein paar Seiten überflog. »Auch das, was Historiker schreiben, ist letzten Endes nur Theorie.« Er legte das Buch behutsam wieder zurück. »Bloß dass sich deren Abhandlungen nie auch nur annähernd so spannend lesen.«
Leo fasste sich ein Herz. »Herr König«, begann er, »darf ich Sie mal was fragen?«
Der durchdringende Blick des Mannes richtete sich auf ihn. »Bitte.«
»Wie fängt so etwas eigentlich an? So eine – wie sagt man? Dynastie? Ich lese immer nur, dass der älteste Sohn eines Königs dessen Nachfolger wird, wieder einen Sohn zeugt und immer so weiter – aber irgendwie muss das doch angefangen haben. Einer muss der erste König der Linie gewesen sein. Und ich frage mich schon seit jeher, wie er das geworden ist.«
Simon stellte sein Weinglas behutsam ab. »Das ist eine Frage für einen abendfüllenden Vortrag, fürchte ich. Das Königtum als Herrschaftsform ist so alt wie die menschliche Zivilisation, und dementsprechend verliert sich hinsichtlich seiner Anfänge vieles im Dunkel der Geschichte. In den meisten alten Kulturen dürfte der König zugleich auch eine Art Hohepriester gewesen sein. Oft hat er seine Herkunft von den Göttern abgeleitet oder galt als deren Inkarnation, also gar nicht mehr als normales menschliches Wesen. In Ägypten etwa war der Pharao weltlicher Herrscher, geistliches Oberhaupt und, zumindest anfangs, Verkörperung des Gottes selbst. In Japan war das noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs so; erst die Besetzung durch die Amerikaner raubte dem Tenno seinen gottgleichen Nimbus.«
»Und in Deutschland?«
»Nun, Deutschland hat bekanntlich eine wechselvolle Geschichte. Da muss man weit zurückgehen, noch vor das sogenannte ›Heilige Römische Reich Deutscher Nation‹, das sich imzehnten Jahrhundert unter den Ottonen herausbildete. Im Ostfränkischen Reich, dem Vorläufer, wurde der König tatsächlich in der Regel gewählt. Allerdings war natürlich bei Weitem nicht jeder wahlberechtigt, und es war auch nicht jeder wählbar. Vor allem in den Anfängen musste ein König einem Geschlecht mit sogenanntem Königsheil entstammen – womit wir wieder diese Vorstellung von einer Übernatürlichkeit des Königs finden, denn Königsheil bedeutete, übermenschliche Kräfte zu besitzen. Das begann damit, dass ein König außerordentlich klug und redegewandt sein musste – Eigenschaften, die man heutzutage unter dem Begriff ›Charisma‹ subsumieren würde –, aber es ging so weit, dass man von ihm erwartete, in einer Schlacht unverwundbar zu sein, die Fruchtbarkeit der Felder zu bewirken und Kranke zu heilen.«
»Ein bisschen viel verlangt, oder?«
»Ja, aber daher kommt beispielsweise die Regel im Schach, dass das Spiel als verloren gilt, wenn der König geschlagen ist. Man betrachtete im Frühmittelalter das Kriegsglück als vom König abhängig. Wenn der König fiel, ging die Schlacht unweigerlich verloren.«
Leo sah betreten auf seine halbfertigen Schnittchen hinab. »Sehen Sie, das hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Ich hatte die Vorstellung, dass irgendwann einer die Macht in einem Land ergreift, sich zum König erklärt und dann bestimmt, dass seine Kinder und deren Kinder nach ihm König werden, sodass seine Familie an der Macht bleibt. Dass das immer so begonnen hat.«
»Derlei Fälle lassen sich wahrscheinlich auch finden, aber sie erklären nicht, warum diese Art der Herrschaft so allgemein verbreitet war. Ich denke, dass es eher mit dieser Vorstellung zu tun hat, einem König hafte etwas Übermenschliches, etwas Göttliches an – und mit der Idee, dass sich diese
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