Ein König für Deutschland
Messer? Ein Folterinstrument?
Wie es sich zeigte, war es ein schwarzes Stück Stoff, das er hervorholte; etwas wie eine breite Krawatte.
Hatte er vor, ihn zu würgen, bis er das Versteck verriet?
»Nein«, sagte der dürre Mann. Seine Oberlippe kräuselte sich spöttisch, wodurch sich der dünne Bart in eigenartige Formen legte. »Ich habe nicht vor, Sie damit zu erwürgen. Das ist eine Augenbinde, sehen Sie?« Er hob das Stück Stoff hoch. »Und jetzt fragen Sie sich, ob ich Gedanken lesen kann. Die Antwort«, fügte er mit einer Ernsthaftigkeit hinzu, die Simon einen Schauder über den Rücken jagte, »lautet Ja. Ja, ich kann Gedanken lesen. Deswegen bin ich so überzeugt davon, dass wir Sie nicht lange aufhalten werden.«
Simon musterte den Mann skeptisch, wie er die Augenbinde zwischen seinen Händen hin und her zog, als müsse er sie straffen und in Form bringen. Gedanken lesen? Dann konnten Schweine fliegen. Und Oberschülern war Unterricht neuerdings wichtiger als Sex.
»Sie glauben mir nicht«, fuhr der Hagere fort, verständnisvoll den Kopf schüttelnd. »Das kann ich Ihnen nicht verdenken. Ich an Ihrer Stelle wäre auch skeptisch. Aber Sie werden sehen, dass es stimmt. Wobei man sich das nicht so vorstellen darf, als könnte ich in Ihrem Kopf lesen, wie man ein Buch liest. Oder Ihren Gedanken zuhören, wie man ein Gespräch in der Straßenbahn belauscht. Es ist ein bisschen komplizierter. Ich muss michdazu konzentrieren – dafür ist diese Augenbinde gedacht. Für mich, nicht für Sie.« Er machte eine einladende Handbewegung. »Kommen Sie. Näher. Ich tue Ihnen nichts. Und mein Assistent wird dafür sorgen, dass auch Sie mir nichts tun. Hier«, er deutete auf einen Punkt am Boden, keinen Meter von ihm entfernt, »stellen Sie sich hierher.«
Was sollte das werden, um Himmels Willen? Das war bei Gott der eigenartigste Überfall, von dem Simon je gehört hatte. Dass ausgerechnet er das erleben musste! Darauf hätte er wahrlich verzichten können.
Er seufzte und folgte den Anweisungen. Als er vor dem Hageren stand, konnte er dessen Rasierwasser riechen. Auch darauf hätte er verzichten können; es war eine Duftnote, die er eher mit Halbwelt und dubiosen Gesellschaftsschichten assoziierte denn mit Vornehmheit und Stil.
Der Mann faltete das schwarze Tuch zweimal der Länge nach, legte es sich vor die Augen und verknotete es hinter dem Kopf. Er zupfte sich die Binde zurecht, bis sie zu seiner Zufriedenheit saß, dann verharrte er eine Weile reglos, wie in tiefe Andacht versunken.
Simon wagte nicht, sich zu rühren. Alles, was er tun konnte, war, den fremden Mann anzustarren, der da ein schwer fassliches Schauspiel mitten in Simons eigener Wohnung aufführte. Was sollte das werden? Das hatte er sich schon einmal gefragt, aber er hatte immer noch keine Antwort darauf.
»So«, sagte der Mann mit den verbundenen Augen unvermittelt. »Nun drehen Sie mir bitte den Rücken zu, damit ich meine Hand in Ihren Nacken legen kann. Ungewohnt, ich weiß, aber notwendig, um den Kontakt zu Ihrem Geist aufzunehmen.«
»Los«, knurrte der Zwerg, der so gelangweilt zusah, als habe er dergleichen schon öfter gesehen, als er zählen konnte.
Es blieb ihm wohl keine Wahl. Simon drehte sich um, zuckte zusammen, als eine kalte, spinnenfingrige Hand in seinen Nacken fasste.
»Nun denken Sie bitte an das Versteck der CD«, sagte der Mann.
Sonst noch was. Im Gegenteil, Simon bemühte sich, nicht an das Versteck zu denken. Nicht weil er dem Kerl abnahm, dass er Gedanken lesen konnte, nein, nur … Nun ja, für alle Fälle. Rein sicherheitshalber dachte er nicht an die Schubladenrückseite, an deren Rückseite er die CD geklebt hatte, in einen Briefumschlag gehüllt.
Er holte tief Luft, dachte an … nun, an was konnte man denken, wenn man den Gedanken an eine weiße, unbeschriftete CD vermeiden, sich nicht daran erinnern wollte, wie man sie aus der Plastikhülle genommen und in den Briefumschlag gelegt und damit durch die Wohnung gewandert war, verschiedene Verstecke erwägend und verwerfend …?
Er konnte an die Schule denken. An die nächste Prüfung, die er die siebte Klasse schreiben lassen wollte, an die Fragen, die er darin stellen würde … Nein, zu schwach, dahinter schimmerte doch wieder die Erinnerung, wie er den Klebstreifen abgerollt und auf das dunkle Holz gedrückt hatte … An Sex. Er konnte an Sex denken. Was den Nachteil hatte, dass er dann an Helene denken musste, und das wollte er eigentlich weiterhin
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