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Ein König für Deutschland

Ein König für Deutschland

Titel: Ein König für Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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vermeiden, so gut es ging.
    »Ihr Geist ist ein wenig unklar …«, hörte er den Mann hinter sich murmeln. »So viele Gedanken … So viele Gefühle … Sie denken an Ihre Ex-Frau, will mir scheinen …«
    Simon schluckte unwillkürlich. Herr im Himmel, wie konnte der Mann das wissen? Wie konnte er überhaupt wissen, dass er verheiratet war? Nichts in der Wohnung deutete darauf hin; Simon besaß nicht einmal mehr das Doppelbett, schon seit Jahren nicht mehr …
    »Ich muss Sie bitten, sich jetzt gemeinsam mit mir durch die Wohnung zu bewegen«, sagte der Mann. »Folgen Sie meinen Anweisungen, und gehen Sie ganz langsam, Schritt für Schritt, damit ich Ihnen gut folgen kann. Zuerst ins Wohnzimmer, bitte.«
    Ins Wohnzimmer. Simon verbiss sich ein erleichtertes Lächeln. Weit war es also nicht her mit der Gedankenleserei. Ins Wohnzimmer? Gern. Dort konnte der Kerl suchen, bis er so schwarz war wie seine Augenbinde.
    Er setzte sich in Bewegung.
    »Halt«, sagte der Mann. »Nein. Im Wohnzimmer ist sie nicht.« Er überlegte. Stille. Simon versuchte zu schlucken, aber sein Hals war wieder wie ausgedörrt. Was war das für ein Mensch? Gedanken lesen, wie um alles in der Welt …? Das gab es doch nicht. Das waren Legenden. Märchen. Erfindungen der Medien. Niemand konnte Gedanken lesen.
    »Probieren wir es im Schlafzimmer.«
    Volltreffer. Simon spürte ein Zittern in seinen Beinen. Das war unglaublich. Wie machte der Mann das? Ihm war auf einmal, als spüre er kalte, schleimige Tentakel in seinem Schädel, geradeso, als besäßen die dürren Finger in seinem Nacken unsichtbare Verlängerungen, die sich durch Haut und Knochen gebohrt hatten, seine Hirnrinde abtasteten, in seinen Erinnerungen blätterten wie in einem staubigen alten Karteikasten …
    »Bitte, ins Schlafzimmer«, wiederholte der Unheimliche, und Simon blieb nichts anderes übrig, als sich gehorsam in Bewegung zu setzen. Immerhin, das Schlafzimmer war groß, bot zahlreiche Verstecke, und vielleicht war das nur ein Zufallstreffer gewesen und hatte nichts zu bedeuten …
    Er öffnete die Tür, trat hindurch. Was für eine Schmach, zwei wildfremde Menschen, Einbrecher zumal, ins eigene Schlafzimmer führen zu müssen! Glücklicherweise gehörte es zu seinen Angewohnheiten, morgens nach dem Aufstehen das Bett zu machen; der Schlafanzug hing ordentlich über der Stuhllehne … Trotzdem. Eine verdammte Schweinerei das alles! Er musste sich die Stimme einprägen, sich merken, wie die beiden aussahen, damit er sie der Polizei genau beschreiben konnte …
    »Beschreiben Sie mir, was Sie sehen«, forderte der Mann in seinem Rücken ihn auf.
    Hatte er das Wort »beschreiben« in seinen Gedanken aufgeschnappt?
    Unheimlich.
    »Da ist das Bett«, zählte Simon auf. »Daneben der Nachttisch. Eine Kommode. Der Kleiderschrank. Ein Teppich, eine Hängelampe, ein Stuhl …«
    »Der Kleiderschrank«, unterbrach ihn der Mann, der offenbar wahrhaftig Gedanken lesen konnte, mit gruseliger Zielsicherheit. »Gehen Sie bitte zum Kleiderschrank.«
    Wie kann er das wissen? , fragte sich Simon verzweifelt, während er sich zögernden Schritts auf den dunkelbraunen alten Kleiderschrank zubewegte, eine Garnitur, wie sie in den Achtzigern modern gewesen war. Im Grunde nicht sein Geschmack, er hätte das Monstrum schon längst ersetzen sollen … Wie konnte der Mann wissen, dass er die CD im Kleiderschrank versteckt hatte? Als Simon nach einem Versteck gesucht hatte, hatte sein erster Gedanke den Büchern gegolten, die im Wohnzimmer, im Flur und im Esszimmer zahlreiche Regale bevölkerten, dicht an dicht. Seine erste Idee war gewesen, die CD innen in den Einband eines der zahllosen Geschichtswerke zu kleben, die er besaß.
    Er hatte schon Golo Manns »Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« in der Hand gehabt, die gebundene Sonderausgabe, groß, stabil, als ihm der Gedanke gekommen war, dass ein eventueller Eindringling, der – aus welchen Gründen auch immer – Vincents CD bei ihm suchen würde, auf denselben Gedanken kommen mochte. Eine CD in einem Buch zu verstecken, das war schlicht die naheliegendste Idee. Was er für einen guten Grund gehalten hatte, es gerade nicht so zu machen.
    Und nun stand er genau vor dem Möbel, von dem er gedacht hatte, dass niemand hier eine CD vermuten würde.
    »Öffnen Sie die Türen eine nach der anderen«, forderte der Mann ihn auf.
    Der Revolver in der Hand des Zwergs zuckte, eine wirksame Motivationshilfe. Simon öffnete die erste Tür. Diese

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