Ein König für Deutschland
Bruce einverstanden war, dir zu helfen, als ich angerufen habe, obwohl –«
»Bruce ist okay«, unterbrach Vincent. »Bruce war immer okay. Bei Bruce hättest du bleiben sollen. Er hat dich wirklich geliebt, weißt du das eigentlich?«
Mom sah ihn erschrocken an, blickte zur Seite, so, als müsse sie Tränen verbergen, blinzelte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß. Vielleicht bin ich deshalb damals …« Sie stieß einen langen Seufzer aus, versuchte ein Lächeln, das verzweifelt bemüht aussah. »Jeder macht mal Fehler, nicht wahr? Ich jedenfalls hab eine Menge gemacht. Also, ich kann dir gar keinen Vorwurf machen, was?« Zu Vincents Erleichterung ließ sie das mit dem krampfhaften Lächeln. »Ich mach dir auch keinen Vorwurf. Mir selber mache ich Vorwürfe, und daran kann mich keiner hindern.«
So saßen sie einen Moment schweigend, während rechts um Geld gestritten wurde und links um den Namen, den ein noch ungeborenes Kind bekommen sollte.
»Hast du mit meinem Vater telefoniert?«, fragte Vincent schließlich. Das war jetzt wichtig.
Sie nickte. »Hab ich.«
»Und?«
»Es war eigenartig, seine Stimme wiederzuhören. Er klang noch genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Als wäre keine Zeit vergangen.« Sie lächelte versonnen. »Schon seltsam, das mit der Zeit …«
»Hast du ihn nach der CD gefragt?«
»Die CD? Ja. Er hat sie bekommen. Aber jemand hat sie ihm noch am gleichen Tag gestohlen. Ein großer, dünner Mann, hat er gesagt.«
Vincent ließ sich fassungslos nach hinten sinken. Zantini. Dieser Hund. Wie zum Teufel hatte er das wieder fertiggebracht? Woher hatte er wissen können, wem er die CD geschickt hatte? Dass er davon gewusst haben konnte, der Gedanke war ihm unterwegs gekommen; einfach so, ein Gefühl … Zum Glück kannte er Sironas E-Mail-Adresse auswendig, und die Idee, sie die CD holen zu lassen, war ihm ziemlich schlau vorgekommen.
Er begriff es nicht. Vielleicht war Zantini doch ein richtiger Zauberer, und das mit der Bühnenmagie war nur Tarnung?
Vincent dachte nach, mit Blick auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand, die zur Eile drängte, denn die Sprechzeit endete in ein paar Minuten. Er hatte eine Idee, aber er war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war. Nach allem, was geschehen war, zweifelte er mehr denn je daran, überhaupt imstande zu sein, eine gute Idee von einer schlechten zu unterscheiden.
Aber die Zeit drängte, und vielleicht hatte er nur die eine Chance, den Lauf der Dinge noch zu ändern.
Er beugte sich vor, sah seine Mutter an, die Lippen dicht vor dem Mikrofon. »Kannst du ihn noch mal anrufen?«
Sie riss die Augen auf. »Ja. Klar.«
»Tu das. Und dann sag ihm Folgendes …«
KAPITEL 26
A lex wohnte im Stuttgarter Süden, in einem dieser totalrenovierten Häuserblöcke in der Gegend der Mozartstraße, deren Baustellen monatelang für Staus und Verkehrsbehinderungen gesorgt hatten. Während Simon die Stufen der U-Bahn-Station hinaufstieg, fragte er sich, was er hier eigentlich tat. Was er mit dem Ganzen zu schaffen hatte. Nur weil sein Sohn, ein Mensch, dem er noch nie im Leben begegnet war, ein Computerprogramm geschrieben hatte … War es nicht verrückt, was für Auswirkungen solche winzigen, eigentlich gar nicht existierenden Dinge heutzutage haben konnten? Einmal mehr kam es ihm so vor, als sei die Welt im Begriff durchzudrehen.
Ob Menschen vor einem Jahrhundert ähnlich empfunden hatten? Oder war das einfach nur das Alter? Kam einem die Welt zu allen Zeiten hektisch und überwältigend vor, sobald man eine gewisse Anzahl von Jahren zählte? Das hätte Simon zu gern gewusst. Er hätte etwas darum gegeben, einmal in die Haut eines Menschen schlüpfen zu können, der im neunzehnten oder achtzehnten Jahrhundert gelebt hatte, nur um zu erfahren, wie sich das anfühlte. Man konnte Geschichtsbücher studieren, so viel man wollte, das erfuhr man daraus niemals: wie es sich anfühlte, im Kaiserreich zu leben mit seiner rigiden Hierarchie, zu Zeiten der Französischen Revolution mit ihrem Anspruch, die ganze Welt umzukrempeln, oder im Mittelalter mit seinem unhinterfragten religiösen Weltverständnis.
Da war die Nummer, die ihm Sirona genannt hatte. Und der Name Alexander Leicht stand auf dem Klingelschild.
»Nehmen Sie den Aufzug«, kam Alex’ Stimme aus dem Lautsprecher. »Ganz oben.« Dann summte der Türöffner.
Ganz oben gab es nur eine Wohnung, eine Art Penthouse. Die Tür stand offen, gab den Blick
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