Ein König für San Rinaldi
wurden geschwenkt, und Blumen leuchteten. Auf dem Vorplatz spielte ein kleines Orchester die Nationalhymne, an deren Ende die Versammelten in lauten Jubel ausbrachen. Die freudige Stimmung der Menschen war spürbar.
Als Vater kannte Kadir den König kaum. Sie waren einander als erwachsene Männer begegnet, Männer, die ihre eigenen Ziele verfolgten.
Plötzlich spürte Kadir einen Kloß im Hals. Die Emotionen drohten ihn zu überwältigen, und das überraschte ihn. Schließlich war er vierzig, viel zu alt für Sentimentalitäten. Und dennoch bedauerte er, dass es zwischen ihm und König Giorgio keine richtige Vater-Sohn-Beziehung gab.
König Giorgio trat an die Balustrade, hob die Arme und wartete, bis sich tiefes Schweigen über den Platz legte.
„Mein Volk!“, rief der König laut und deutlich. „Ich schenke euch meinen Sohn!“
Natalia stand im Zimmer, von dem der Balkon abging, und wartete darauf, zum König und zu ihrem künftigen Ehemann gerufen zu werden. Als sie die Jubelrufe der Menge hörte, fühlte Natalia Nervosität in sich aufsteigen. Unten auf dem Platz standen jetzt ihr Vater und alle Mitglieder ihrer weitverzweigten Familie. Trotz aller früheren Meinungsverschiedenheiten waren ihr Vater und König Giorgio sich in einer Angelegenheit einig: Beide liebten ihre Heimat über alles.
Durch die offenen Türen lauschte sie der leicht bebenden Stimme des Königs. Hatte dieses Beben mit seinem Alter oder mit Gefühlen zu tun? In jedem Fall gelang es ihm, die Menschen vom ersten Moment an zu begeistern.
„Wir müssen immer daran denken“, erklärte König Giorgio gerade ernst, „dass in allem ein verborgener Sinn liegt. Als einer meiner möglichen Nachfolger nach dem anderen das Anrecht auf den Thron verwirkte, wurde ich von großen Sorgen geplagt. Ich dachte dabei an euch, mein Volk, und an mein Land. Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass das Schicksal die Lösung bereithält. Aber so ist es. Wir haben einen neuen Thronfolger: Mein Sohn, von dessen Existenz ich nichts wusste.“
Es war jetzt so still, dass jeder Einzelne auf dem Vorplatz den König auch ohne Mikrofon und Lautsprecher verstanden hätte.
„Eine Zufallsbekanntschaft vor vielen Jahren führte zu seiner Geburt“, verkündete der König. „Seine Mutter wahrte jedoch ihr Geheimnis mir gegenüber und gestand ihm seine wahre Herkunft erst auf ihrem Sterbebett. Prinz Kadir hat auf sein Recht verzichtet, über Hadiya zu herrschen, weil er dem Ruf der Pflicht folgt, dem Ruf des Blutes – seines Blutes, meines Blutes und eures Blutes, Volk von San Rinaldi!“
König Giorgio wartete, als tosender Beifall und Jubel einsetzten.
„Er wird Hilfe brauchen“, erklärte er schließlich. „Hilfe, um über dieses Land so zu herrschen, wie es für San Rinaldi am besten ist. Darum ist es mir eine große Freude, heute zu verkünden, dass mein Sohn und der zukünftige König Kadir in zehn Tagen eine Tochter unseres Landes heiraten wird – Natalia Carini!“
Die Rufe der versammelten Menschen bildeten einen einstimmigen Jubelschrei. In diesem Augenblick spürte Natalia, wie ihr ein leichter Stoß versetzt wurde. Ohne darüber nachzudenken, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Sekundenlang war sie geblendet vom hellen Sonnenschein. Dann nahm sie allen Mut zusammen und trat auf den Balkon. Wieder ertönten die Fanfarenlaute.
Der König stand in der Mitte. Natalia vollführte einen tiefen Hofknicks vor ihm, wobei das Korsett unangenehm drückte. Hinter ihr standen verschiedene Würdenträger, unten jubelte die Menge und rief begeistert ihren Namen.
„Natalia! Natalia! Eine wirkliche Prinzessin von San Rinaldi!“
Es duftete nach den unzähligen Blumen, die auf der Insel wuchsen. Die Menschen warfen farbenfrohe Blüten hoch, deren lieblicher Duft die Luft erfüllte.
„Tochter von San Rinaldi“, sagte der König laut. „Reiche mir deine Hand, damit ich dich hier vor unserem Volk symbolisch mit unserem Erben und meinem Sohn Prinz Kadir vereinige.“
Als der König nach ihrer Hand tastete, hatten sich Natalias Augen an die Helligkeit gewöhnt. Zum ersten Mal konnte sie einen Blick auf ihren zukünftigen Ehemann werfen.
Sie glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Alles um sie herum drehte sich. Er war es, der Mann aus Venedig! Leon Perez!
Das konnte nicht sein. Sie bildete sich nur etwas ein. Aber er war es, zweifellos. Ihr zukünftiger Ehemann Prinz Kadir war Leon Perez, mit dem sie in
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