Ein König für San Rinaldi
Perspektive. Natalia fand, sie hätte genauer über die Erwartungen und Einstellungen des Mannes nachdenken sollen, der San Rinaldis nächster König wurde.
Zu spät erkannte sie nun, dass sie und Kadir keine Vernunftehe führen würden, deren Grundlage die gleichen Ziele und Ansichten waren. Auch wenn sie sich nicht in Venedig begegnet wären, entsprach sie einfach nicht dem Typ Frau, den Kadir als Ehefrau bevorzugte. Natalia hielt ihn trotz seiner rauen männlichen Ausstrahlung und Sexualität für innerlich schwach. Denn er hielt an altmodischen Ansichten fest und glaubte, es sei unter seiner Würde, eine Frau zu heiraten, die schon von einem anderen Mann berührt worden war. Wie erbärmlich!
Natalia ihrerseits war auf ihre persönliche Entwicklung stolz. Sie hatte studiert, war erwachsen geworden und traf eigene Entscheidungen. Natürlich würde sie heute das eine oder andere im Nachhinein anders machen. Aber immerhin lernte sie immer aus den eigenen Fehlern. Und bis vor Kurzem hatte sie keine Erfahrung mit einem Mann gemacht, die sie hinterher bedauert oder derer sie sich geschämt hätte.
Sie war eine reife Frau. Und nur sie entschied für sich, was richtig oder falsch war. Das galt in allen persönlichen Bereichen, auch in Sachen Sex.
Ihrer Meinung nach wäre völlige Enthaltsamkeit genauso falsch wie ein zu ausschweifendes Leben. Natalia hatte sich nie von einem Mann zum nächsten geflüchtet. Lieber hatte sie lange auf eine Beziehung verzichtet.
Nur ein einziges Mal hatte sie die eigenen moralischen Grundsätze ignoriert, und das bei Kadir. Vor ihm hatte sie nicht einmal den Wunsch nach einem leidenschaftlichen Abenteuer verspürt. Aber wie sollte sie ihm das verständlich machen und ihn dazu bringen, ihr zu glauben? Für ihre Ehe und für San Rinaldi musste es ihr irgendwie gelingen.
Nun standen sie nebeneinander bei dem Empfang und begrüßten die geladenen Gäste. Der König höchstpersönlich hatte sie zusammengebracht. Als Zeichen dieser Verbindung prangte nun der schwere Ring an Natalias Finger. Das Volk von San Rinaldi sah sie und Kadir bereits als Paar. Tatsächlich standen Misstrauen, Verdächtigungen, Verrat und eine unterschiedliche Lebenseinstellung zwischen ihnen. Und wie sollte sie diese Kluft jemals überbrücken!
Kadir glaubte regelrecht von dem steifen goldbestickten Kragen der Uniform erstickt zu werden. Im Gegensatz zu den vertrauten weichen arabischen Roben, die er in Hadiya bei offiziellen Anlässen getragen hatte, fühlte sich die traditionelle Kleidung der Königsfamilie rau, hart und beengend an.
Es kam ihm vor, als hätte man ihn in ein Kostüm gesteckt, damit er seine Rolle in einem Stück spielte, das von den Erwartungen anderer Menschen gesteuert wurde. Er fühlte sich nicht, als erlebe er gerade einen der wichtigsten Momente seines Lebens, auf den er nur gewartet hatte.
Nachdem seine Mutter ihm die erschütternde Wahrheit gesagt hatte, war er sofort zur Tat geschritten. Gründlich hatte er sich über San Rinaldi informiert. Die Insel verfügte seiner Meinung nach über viel Potenzial. In politischer und in wirtschaftlicher Hinsicht konnte Kadir das Land voranbringen. Schon die geografische Lage war sehr günstig.
Die Welt veränderte sich, die alten Mächte wurden von neuen abgelöst. Das bot Männern wie ihm ungeahnte Möglichkeiten – Männern, die klug, aufnahmefähig und aufgeschlossen genug waren, um ein ganzes Land in eine Zukunft voller Herausforderungen zu führen.
Diese Einstellung hatte Kadir gewonnen, während er sich mit der Geschichte seines Landes und des gesamten Mittleren Ostens beschäftigt hatte. Er wünschte sich, dass seine Einflusssphäre und die seiner Söhne weit über San Rinaldi hinausreichen würde. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchte er eine Ehefrau, die wie er dachte und ihn verstand – eine Ehefrau, die ihm Kinder schenkte, die garantiert seine leiblichen waren.
Worauf er verzichten konnte, das war eine Frau, die sich leichtfertig einem beliebigen Mann hingab, auf den sie gerade Lust hatte. Voll Zorn dachte Kadir an die Bekanntgabe der Verlobung auf dem Balkon. Sehr genau erinnerte er sich an den Moment, als seine zukünftige Ehefrau erschien und sich dem Volk zeigte. Diese Frau kannte keine Moral – nein, noch schlimmer. Sie verschenkte sich, um Lust zu bekommen. Andere Frauen verlangten wenigstens eine Gegenleistung.
Wenn er daran dachte, wie leichtfertig sie die bevorstehende Heirat vergessen hatte … Am liebsten würde er
Weitere Kostenlose Bücher