Ein koestliches Spiel
konnte nicht sagen, was besser war: ein Wutanfall, der mit einem brutalen Ausbruch vorüber war, oder dieses Warten ... nichts zu sehen ... nichts zu wissen. Sich alles Mögliche auszumalen. Es war erschreckender, machte mehr Angst. Langes Schweigen, und dann plötzlich ...
Der nächste Schlag. „Ich bin Dereham von Dereham Court ... ich sorge dafür, dass wir beide sterben, ehe ich mich einsperren lasse.“
Einsperren für was? fragte sie sich. Sorge dafür, dass wir beide sterben?
Sie kauerte sich tiefer unter die Decke, rang unter dem Stoff um Atem, schluckte krampfhaft, würgte an dem Knebel. Noch nie hatte sie sich so allein gefühlt. Diesmal war niemand da, um ihr zu helfen; keine Schwestern und keine Diener, um einzuschreiten. Sie war mit ihm allein, hilflos in der dunklen Kutsche. Auf dem Weg in die Hölle.
Im Moment kamen die Schläge nur hin und wieder. Es war nicht so schlimm. Sicher, es war Furcht einflößend, so in der Ecke zu kauern, nie zu wissen, wann oder wo sie zu erwarten waren, aber es war besser als ein Wutanfall. Sie hoffte, sie richteten weniger Schaden an. Am Ende war es vielleicht leichter auszuhalten. Wann immer auch das „Ende“ sein würde.
Aber sie würde nicht aufgeben. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen, sich nicht geschlagen geben. Sie hatte die Lichtstrahlen des Glücks gesehen; es lag in Reichweite.
Von Zeit zu Zeit murmelte er etwas vor sich hin. Manchmal konnte sie verstehen, was, manchmal nicht. Manchmal ergab es Sinn, manchmal nicht. Manchmal machte ihn das, was er sagte, wütend, und er holte wieder aus. Ihre einzige Vorwarnung war das Sirren des Stockes in der Luft.
„Bist zu deinem Liebhaber geflohen, was?“ Der nächste Hieb sauste auf sie nieder. „Hure! Treulose Dirne.“
Ihr Ohr dröhnte von dem Schlag, übertönte die hässlichen Schimpfwörter, mit denen er sie bedachte. Worte taten nicht weh. Er hatte sie schon früher so genannt. Ihr Liebhaber? Wie hatte er das herausgefunden? Es war egal. Sie liebte Gideon. Es war ihr gleichgültig, wer es wusste. Sie musste es jetzt nicht länger leugnen, noch nicht einmal vor sich selbst.
Sie liebte Gideon. Sie stellte sich sein Gesicht vor, klammerte sich an den Gedanken an ihn. Ihr Leuchtfeuer im Sturm. Gideon. Seine dunklen Augen, die sie aufzogen, zum Lachen brachten. Und gleichzeitig Wundervolles versprachen. Und uns wird alle Lust beschieden. Lust, kein Schmerz.
Den Gedanken hielt sie fest, konzentrierte sich nur darauf.
Irgendwann würden die Pferde gewechselt werden müssen. Es war ein langer Weg von Bath nach Norfolk. Es konnte nicht mehr lange dauern, auch wenn das anfänglich hohe Tempo inzwischen gemäßigter geworden war. Vielleicht würde sich ihr dabei eine Möglichkeit zur Flucht bieten. Sie versuchte, ihre verkrampften Glieder unauffällig zu bewegen und zu strecken.
Der Hieb traf sie am Schienbein.
Um die Wellen des Hasses abzublocken, die auf sie eindrangen, klammerte sie sich wieder an Gedanken an Gideon. Gideon, der ihr das Gefühl gab, schön zu sein. Gideon, dessen Küsse sie selbst jetzt noch wärmten, wo sie in Großvaters kalter, bitterer Hölle gefangen war. Gideon, der als trauriger kleiner Junge aufgewachsen war in einem Heim ohne Liebe. Er brauchte es, geliebt zu werden, auch wenn er es nicht wusste. Und er hatte gesagt, dass er sie liebte, brauchte, sie, die unscheinbare Prudence Merridew. Das hatte er ihr gesagt, und in seinen Augen hatte dabei eine machtvolle, dunkle Hitze gestanden, und mit seinen Lippen hatte er ein Gedicht zitiert.
Komm, leb mit mir und lass dich lieben, dann wird uns alle Lust beschieden.
Und sie hatte zugelassen, dass Zweifel in ihr aufkeimten! Hatte sich von Männern wie ihrem Großvater und Phillip verunsichern lassen. Blinde, dumme Prudence. An dem Mann zu zweifeln, der sie so sehr brauchte, dem Mann, den sie von ganzem Herzen liebte. Und das nur, weil er ein sogenannter Frauenheld gewesen war. Was zählte es schon, dass er nicht die richtigen Worte benutzt hatte? Er hatte sie lieben wollen, und selbst wenn ...
Ein neuer Schlag. Was, wenn sie heute Nacht starb? Was, wenn sie starb, ohne je die Chance gehabt zu haben, ihm zu sagen, wie sehr sie ihn liebte? Ohne zu wissen, wie es war, ihn zu lieben?
Sie würde nicht sterben. Sie würde das hier überleben! Sie musste es. Sie musste Gideon sagen, dass sie ihn liebte. Die Konsequenzen kümmerten sie nicht. Und sie würde ihn lieben, mit ihrem Körper lieben, sobald sich die Gelegenheit dazu
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