Ein Komet fält vom Himmel
… ein gejagter Mensch aber ist das einsamste Geschöpf auf der Welt. Man hält ihn für gefährlicher als das blutgierigste Raubtier.
Er stand da, begann zu frieren, der Schnee blieb auf seinen Haaren liegen und formte eine weiße Baskenmütze. Noch immer wußte er nicht, wohin er weiterflüchten sollte. Wie kommt man weiter ohne Geld, ohne Papiere, ohne das Vertrauen zu anderen Menschen.
Er zuckte zusammen, als plötzlich jemand vor ihm stehenblieb. Es war eine alte Frau, die Haare unter einem Kopftuch verborgen. Sie sah ihn an und schüttelte dann den Kopf.
»Haben Sie es nötig, zu betteln?« fragte sie. Ihre Stimme war so runzelig wie ihr Gesicht, aber es war eine gütige, mütterliche Stimme. Peter Pohle nickte.
»Ja … ich muß betteln. Aber ich bettle umsonst …«, sagte er.
Nach Australien, dachte er plötzlich wieder. Erika, ich bettle dich an: Flieg mit den Kindern nach Australien …
»Wo wohnen Sie?« fragte die alte Frau.
»Im Moment nirgendwo …«
»Warum arbeiten Sie nicht? Jemand, der arbeitet, braucht nicht zu betteln …«
»Man braucht mich nicht mehr«, sagte Peter Pohle heiser.
»Sie sind doch noch nicht alt.«
»Das ist keine Frage des Alters. Ich bin unnütz, weil ich die Wahrheit sagen wollte …«
»Das kenne ich.« Die alte Frau griff in die Manteltasche, holte eine abgeschabte Geldbörse heraus und drückte dem verdutzten Pohle ein Fünfmarkstück in die Hand. Bevor er protestieren konnte, war die alte Frau weitergegangen … sie verschwand im Schleier des lautlos rieselnden Schnees, als saugten die Flocken sie auf.
Welch eine Idee, durchfuhr es Peter Pohle. Ich muß miserabel aussehen, daß man mich für einen Bettler hält. Dr. Peter Pohle, Leiter der Sternwarte und Forschungsanstalt St. Agatha. Aber dieses Aussehen wird mir nun helfen.
Er lief gegen das Schneetreiben an zur Ecke einer Hauptstraße, lehnte sich dort an die Hauswand und hielt den Passanten die rechte Hand ausgestreckt hin. Die Scham ließ ihn rot werden, als der erste Groschen in sie hineinfiel … dann, beim dritten Groschen, war es schon Routine: »Danke schön, die Dame …«, Groschen in die Tasche, Hand wieder vor. »Danke schön, der Herr … Danke schön …«
Vorweihnachtsstimmung. Die Menschen waren in Geberlaune. Von einer Bude auf der anderen Straßenseite wehte der Geruch von gebrannten Mandeln und Kräuterbonbons herüber. Und dazu der Schnee … wessen Herz geht da nicht auf?
Nach einer Stunde hatte Peter Pohle vierzig Mark erbettelt. Er war darüber so erstaunt, daß er immer wieder das Geld durchzählte. Vierzig Mark!
Darunter ein Zehnmark-Schein, den ein Betrunkener ihm in die Hand gedrückt hatte. »Sauf dir einen an!« hatte der Mann gelallt. »Stell dir vor … in ein paar Tagen ist Weihnachten, und meine Olle stirbt! Haut einfach ab! Vor Weihnachten!« Dann hatte er sich an Pohle gelehnt, hatte geweint und war weitergeschwankt. Peter Pohle ging zur nächsten Telefonzelle und wählte seine Privatnummer. Als er die Stimme Erikas hörte, durchfuhr es ihn wie mit glühenden Messern.
»Wer ist dort?« rief Erika, als Pohle sich nicht meldete. »Hallo … wer ist denn da?«
»Erika –«, sagte er leise. Seine Stimme war kaum hörbar, aber Erika erkannte sie sofort. Er hörte, wie sie leise aufschrie. »Erika –«
»Peter! Mein Gott, Peter! Wo bist du?«
»Bist du allein, Erika?«
»Jetzt ja. Bis vor zehn Minuten war Polizei hier, Kriminalpolizei und was weiß ich noch. Sie wollen eine Großfahndung nach dir machen. Peter, warum hast du das getan?! Wo bist du denn?«
»Irgendwo, Erika, irgendwo. Frag nicht. Flieg nach Australien …«
»Peter!!«
»Ich liebe dich, Erika! Ich liebe keinen Menschen mehr als dich und die Kinder. Rettet euch! Das ist alles, was ich euch sagen kann!«
»Sag, wo du bist, Peter!« rief Erika. »Nein! Leg nicht auf! Sag es … ich komme sofort zu dir …!«
»In Begleitung der Zwangsjacke … danke.«
»Peter! Du kannst nicht weglaufen! Du kannst nicht …«
»Ich kann!« sagte Pohle laut und hängte ein. Er blieb noch einen Augenblick in der Telefonzelle stehen, da niemand draußen wartete, und überlegte wieder: Wohin?!
In ein kleines Hotel, dachte er. Aber dann blickte er an sich hinunter und wußte, daß auch das kleinste Hotel keinen Gast aufnimmt, der bei Schneetreiben ohne Mantel und ohne Ausweis ankommt.
Ich habe noch DM 39,80, dachte er. Welch ein Startkapital! Man sollte noch zwei Stunden betteln, dann kann man sich einen billigen
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