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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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alle Worte bisher. »Nie! Ich will sehen, wie du zusammenbrichst unter der Last, tausend Menschen retten zu können, und es doch nicht tust. Kannst du das überleben? Kann man das ertragen? Dort tausend Menschen – hier eine Umarmung! Wieviel wert ist das Keuschheitsgelübde eines Priesters? Überleg es dir, Victor Juwanowitsch.«
    Abukow schloß die Augen, warf sich herum und rannte aus der Wohnung. Hinter sich hörte er das gellende Lachen der Tschakowskaja; ein hohes, irres, nervenaufreibendes Lachen, das auch noch um ihn blieb, als er auf den großen Platz stürzte, sich dort an die Wand des Hospitals lehnte und die Hände faltete.
    Gott, hilf mir, schrie es in ihm. O mein Gott, hilf … sie meint es ernst! Sie schickt morgen tausend Sterbende in die Taiga und in die Sümpfe. Nicht die Hälfte wird zurückkommen!
    Mein Gott, was soll ich tun?
    Es war ausgerechnet Jachjajew, der Abukow über den Weg lief. Die Stimmung in der Kommandantur war so mit Zündstoff geladen, daß der politische Kommissar es für klüger hielt, sich nicht in weitere Diskussionen über die erfolglose Strafaktion verwickeln zu lassen. Er war sowieso von Beginn an einer anderen Meinung gewesen und hatte sie Rassim auch mitgeteilt: Kein großer Schauauftritt, sondern gelassen abwarten, bis sich ein Informant meldet. Den Mord hinnehmen und schweigen – das verunsichert auf die Dauer auch den nervenstärksten Menschen. Jachjajew war sich sicher, daß unter 1.200 Hungernden mindestens einer nicht die Kraft besaß, an vollen Kochkesseln vorbeizugehen oder den Duft aus der Küche zu ertragen. Er kannte das aus Erfahrung: Meist kamen diese Verräter aus den Reihen der kriminellen Sträflinge, selten, ja fast nie aus dem stummen geschlossenen Block der Politischen. Verständlich, denn so ein Bursche, der nichts weiter getan hatte, als ein Geschäft auszuplündern, und der überhaupt jeden Politischen für einen Riesenidioten hielt – warum Hunger und Elend auf sich laden, Krankheit und Tod, nur um einer blöden Idee willen – so ein Krimineller also wird jede Gelegenheit wahrnehmen, um sein Los zu erleichtern. Er wird sagen:
    »Genosse Kommissar, verstehen Sie mich recht – ich bin ein verdammter Mensch, ich habe mich schuldig gemacht, ich büße hier, und ich klage ja auch nicht … aber weil ich nun schon einmal schuldig war, möchte ich nicht neue Schuld auf mich laden, indem ich ein verwerfliches Wissen verschweige …«
    Und Jachjajew pflegte in solchen Situationen immer mit scheinbar väterlicher Güte zu antworten: »Genosse, man sieht, die Besserung hat bei Ihnen schon eingesetzt. Reden Sie frei, keiner hört uns hier. In den Innendienst werden Sie versetzt, keine Qual mehr bei den Rohren oder in den Wäldern, auch die Werkstätten brauchen gute Hände … also, was ist?«
    Es war noch nie ein Besucher von Jachjajew weggegangen, ohne sich mit der Preisgabe von Lagergeheimnissen ein erträglicheres Leben zu erkaufen.
    Nur Zeit muß man haben, verkündete Jachjajew schlau. Ruhe bewahren. Auch bei einem Mord. Gerade bei einem Mord!
    Für solche Verzögerungstaktik hatte der Lagerkommandant keinerlei Verständnis. »Nichts soll ich tun?« hatte er fassungslos gebrüllt. »Was verlangen Sie da, Mikola Victorowitsch! Man muß diesen Kerlen zeigen, wer die Macht besitzt. Worauf soll ich warten, Genosse? Zerbrechen muß man sie. Die Knute – das verstehen wir Russen am besten. Es hat immer überzeugt, seit Jahrhunderten. Sie können ja warten, wenn Sie das wirklich für richtig halten – ich jedenfalls handle!«
    Nun war Rassims Aktion gegen die Sträflinge eine unerwartete, elende Niederlage geworden. Er erkannte das natürlich, wollte es aber nach außen hin nicht wahrhaben. Wehe, wenn man ihn darauf ansprach! Morosow hatte es getan, und seitdem lief Rassim rot an, wenn er nur daran dachte.
    Daß er sich auch mit Jachjajew auseinandersetzen mußte, löste bei ihm ein tiefes zorniges Brummen aus. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, als der Politkommissar sagte: »Wäre es das Ziel der Regierung, die Staatsfeinde zu liquidieren, brauchten wir keine Lager. Um die Erhaltung der Arbeitskraft geht es uns. Wenn die Internierten auch für die öffentliche Ordnung eine Gefahr darstellen, so sind sie immer noch dafür gut, dem Fortschritt des Sozialismus auf andere Art zu dienen, zum Beispiel eben hier in Surgut durch die Arbeit an der Gasleitung. Den Funken Hoffnung, daß sie überleben können und daß vielleicht alles einmal besser

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