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Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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wird sie plötzlich zur Bestie?«
    Wird sie das? dachte Abukow schweren Herzens und starrte gegen die Wand. Habe ich versagt? Durfte ich sie allein lassen, als sie nackt auf der Erde lag? Durfte ich einfach das Zimmer verlassen, wortlos, voller Verachtung, aber auch voller Angst vor der eigenen Schwachheit? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, ihren Anblick zu ertragen und mit ihr zu beten: Gott, verzeih mir diese Stunde, und gib mir den Verstand wieder …?
    Abukow atmete tief auf. Schmerzhaft überlief ihn der Zweifel, ob Gott ihm in dieser Stunde noch Halt gegeben hätte. Mit Entsetzen spürte er: Auch Beten hatte Grenzen. Alle Moraltheologie zerfiel für ihn plötzlich zu leeren Worten vor der Leidenschaft der Tschakowskaja. Welchen Rat würde jetzt der weise Monsignore Battista in Rom geben? Bleibe keusch, wie es dein Gelübde vorschreibt? Auch wenn ich dadurch tausend Menschen in den Tod schicke? War das Gottes Wille?
    »Was … was hat sie gestern getan?« fragte Abukow mit schwerer Zunge.
    »Im Lager war sie, mit zehn Sanitätern, und ist durch die Blocks gegangen«, antwortete Mustai. In seiner Stimme lag tiefe Bedrückung. »Jeder hat eine halbe Portion mehr zu essen bekommen.« Gribow schrie aus dem Hintergrund: »Das waren zweihundert Pfund weiße Bohnen zusätzlich, außer Plan … Sag Victor Juwanowitsch, ich muß vier Sack weiße Bohnen haben! Kommt er nächste Woche?«
    »Kommst du nächste Woche?« wiederholte Mustai.
    »Der Einsatzplan wird erst am Montagmorgen festgelegt. Ich weiß es nicht.« Abukow setzte die Flasche Wodka an den Mund und trank drei gewaltige Schlucke. Mustai hörte es trotz der Entfernung und sagte: »O Brüderchen, du säufst! Ist es wirklich so arg?«
    »Gib mir Nachricht, Mustai, was Montag früh geschieht. Gib sofort Nachricht.«
    »Wohin?«
    »Ins Gewerkschaftshaus. Dort habe ich jetzt ein Zimmer.«
    »Vornehm! Vornehm!«
    »Hinterlaß, wenn Larissa verrückt spielt, nur den Satz: Der Onkel ist krank … Dann weiß ich Bescheid.«
    »Und du kannst dann helfen? Von Surgut aus?«
    »Nein.«
    »Wozu also den Onkel krank werden lassen?« fragte Mustai, und seine Stimme war wie verkrampft. »Sag bloß nicht, daß du für alle Seelen beten willst. Was haben sie davon? Ich bin kein Christ, ich bin ein Moslem, aber ich sage dir: Nichts haben sie davon! Wenn sie im Sumpf verrecken und Milliarden Mücken über sie herfallen oder wenn neben den gefällten Baumstämmen ihr Herz versagt – denkst du wirklich, es wird leichter, wenn sie wissen, daß du für sie betest? Mir wär's nicht leichter, das sag ich dir, wenn ein Mullah neben mir stünde, in dem Augenblick, wo man mir den Kopf abhaut. Dir bleibt nur eins zu tun: Sauf weiter, Brüderchen!« Mustai blickte auf und blickte in das völlig ratlose, fette Gesicht von Gribow. Der eisige Schreck fuhr ihm in die Beine bei der Erkenntnis, daß er ja nicht allein gewesen war.
    »Wer betet da?« fragte Gribow völlig verstört. »Was ist denn das? Sprichst von Christen … Ja, du liebe Güte – Victor Juwanowitsch betet?«
    »Das sagt man so, Kasimir Kornejewitsch«, stotterte Mustai und wußte nicht, ob es überzeugend klang. »Larissa Dawidowna will alle Kranken gesund schreiben, das hat Abukow erfahren. Und nun sagt er: Betet für sie. Hat ein weiches Herz, unser lieber Freund Victor Juwanowitsch … so ein weiches Herz …«
    Gribow nickte. Mustai war zufrieden, klopfte dem Koloß auf die fette Schulter und verließ befreit das Magazin.
    Nun ging der Sonntag vorüber. Abukow saß auf einem Stuhl in seinem Zimmerchen und blickte hinaus auf die belebte Straße mit den sonntäglich gut gekleideten Menschen, die in ihrer luftigen Sommerkleidung aussahen, als promenierten sie am Schwarzen Meer und nicht im tiefsten Sibirien an den Ufern des Ob. Oder er lag auf seinem Bett und grübelte. Oder er lief wie ein im Käfig gefangener Tiger im Haus hin und her.
    Gegen Abend noch einmal im Lager anzurufen, das wagte er nicht. Statt dessen soff er die fünfhundert Gramm Wodka bis zum letzten Tropfen, leckte noch den Flaschenhals ab und fiel wie ein Klotz aufs Bett. Bevor ihm die Sinne schwanden, empfand er ein Gefühl des Wegschwebens. So schön muß Sterben sein, dachte er selig, und sein letzter Gedanke war: Monsignore Giovanni Battista, was für Idioten seid ihr doch in Rom …
    Am Montag, beim Morgengrauen, stand Abukow dem Genossen Transportleiter gegenüber, dem vor ständigem Ärger magenkranken Lew Konstantinowitsch Smerdow. Abukow war der

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