Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Kreuz in Sibirien

Ein Kreuz in Sibirien

Titel: Ein Kreuz in Sibirien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
nicht mehr verstand. Wenn der Himmel eingestürzt wäre – er hätte sich weniger entsetzt als über die Wandlung von Larissa Dawidowna.
    »Die Baracke hat Lagerdienst. Die ganze!« sagte sie endlich. »Ich werde dem Genossen Kommandanten berichten.«
    Das Wiesel verdrehte die Augen vor Glück. Die Sträflinge hinter ihm an den Pritschen atmeten laut und heftig. Professor Polewoi holte tief Luft und schwankte der Tschakowskaja nach, die wieder ins Freie trat. Die Sonne stand jetzt an den Baumwipfeln, es war bereits heiß und schwül.
    »Töchterchen …«, stotterte Polewoi. Sie waren jetzt allein, auf dem großen Platz standen die Blocks der Elenden, das Tor zum Ausgang stand weit offen, die Transportwagen warteten. »O Töchterchen, was ist denn los? Bist du wahnsinnig geworden? Sie werden wie die Fliegen sterben … wie die Fliegen … Warum vernichtest du uns? Erklär es mir, bitte. Sag ein vernünftiges Wort. Gibt es keinen Gott für dich? Nun, wo Victor Juwanowitsch gekommen ist und wir wieder einen Priester haben.«
    »Du bist ein alter Mann, Georgi Wadimowitsch«, sagte sie mit plötzlich veränderter, rauher Stimme. »Ein kluger, alter Mann, ein Genie vielleicht – aber das verstehst du nicht.«
    »Was, Töchterchen?«
    »Wie soll ich dir das erklären? Nie wirst du es begreifen. Gehen wir!«
    »Es bleibt dabei?« stammelte Polewoi.
    »Was?«
    »Alle arbeitsfähig?«
    »Alle!«
    »Die Kranken, die man schleppen muß …«
    »Auf die Wagen!«
    »Töchterchen …« Plötzlich weinte Polewoi, wirklich, ihm rannen die Tränen über Runzeln und Bart. Lautlos weinte er, ohne einen Ton, ohne Schluchzen. »Warum? O warum? Sag doch ein Wort! Warum?«
    Die Tschakowskaja schüttelte den Kopf, ließ den alten weinenden Mann stehen und ging mit weiten Schritten zum Appellplatz. Unter ihren hohen Stiefeln staubte der Boden. Dr. Owanessjan, der nach der vierten Baracke erschüttert zurückgeblieben war – wohl mit dem Gedanken, wer nicht dabei ist, kann auch nicht schuldig sein –, kam ihr entgegen und war wie Rassim entsetzt über den Blick aus ihren Augen.
    »Larissa Dawidowna …«, sagte er stockend.
    »Ja?« fragte sie hell. Wie ein Pistolenschuß klang es.
    »Sie kennen mich, ich bin ein Patriot, ein guter Kommunist bin ich auch, und ich hasse diese Bande von Staatsverbrechern und bin dafür, daß man sie bestraft, so hart es geht. Aber ich bin auch Arzt. Und Sie haben einige Kranke hinausgejagt, die …«
    »Sie sind ein Schwachkopf, Dshuban Kasbekowitsch«, sagte die Tschakowskaja fast milde. »Kümmern Sie sich weiter um Ihre italienischen Schuhe und Ihre duftenden Taschentücher, aber lassen Sie meine Kranken aus dem Spiel.«
    »Larissa Dawidowna, bei Ihnen im Kopf ist etwas ausgeklickt«, rief Owanessjan. »Legen Sie sich hin!«
    »Ich war nie gesünder als jetzt.« Sie sah Dshuban an. »Ich bin Ihre Vorgesetzte. Sorgen Sie dafür, daß alle auf die Wagen kommen. Alle! Nur die Baracke 12 und die Fieberkranken im Hospital bleiben hier.«
    Sie ging mit schnellen Schritten aus dem Lager, vorbei an Oberstleutnant Rassim, der sich hütete, sie jetzt anzusprechen und aufzuhalten. Ein Raubtier im Sprung ist nicht mehr zu bremsen. Langsam folgte ihr Professor Polewoi. Er weinte noch immer, und er wunderte sich, woher er aus seinem ausgetrockneten Körper noch die Tränen nahm.
    Die Wagenkolonne war abgefahren, das Lager war leer, die glücklichen Insassen der Baracke 12 standen nun allein auf dem Appellplatz und warteten auf Befehle. Lagerdienst – das bedeutete Ausruhen und gutes Essen.
    Mustai Jemilianowitsch hatte mit sprachlosem Entsetzen die Selektion verfolgt, hockte jetzt bei dem fetten Gribow im Magazin und raufte sich die Haare. Fröhlich war allein Gribow, weil die Lage sich normalisierte. Schluß mit den Sonderrationen, es gab wieder den alten Fraß. Zwei Tage hatten sie sich vollgefressen, das war nicht gut. Das juckte ihnen zwischen den Beinen. Sie mußten wieder ins normale Leben zurückgeführt werden. »Hier ist kein Kurort«, sagte er.
    Das war sein beliebtestes Wort: Kurort. Damit verband sich bei ihm ein ungeheurer Luxus, Faulenzerei, ein maßloses Fressen und Saufen, bis der Bauch weh tat. Man muß das verstehen, denn Gribow war nie zur Kur gewesen. Er kannte nur die Bilder in den Zeitschriften, von Sotschi, von Jalta, von der Schwarzmeerküste. Herrliche bunte Fotos mit wogenden Palmen, weißen Sandstränden, rassigen Motorbooten, schmucken Segeljachten, überquellenden Büfetts unter

Weitere Kostenlose Bücher