Ein Kreuz in Sibirien
fünf Schneider, vierundzwanzig Maler, drei Architekten, drei Kunstmaler und sogar einen Souffleur. Er kam vom Theater in Charkow und war zu zehn Jahren verurteilt worden, weil er Flugblätter gegen die Atomrüstung verteilt hatte …
»Fast wie ein Bolschoi-Theater!« rief Jachjajew aus, der als erster die Listen erhielt. »Da sieht man mal, welch ein Potential brachliegt!«
Um acht Uhr abends standen vierundvierzig Männer auf dem Bretterpodium und warteten. So gut es ihnen möglich war, hatten sie sich sauber gekleidet. Ihre Schuhe hatten sie geputzt, die zerlumpten, um die Körper schlotternden Anzüge gebürstet und notdürftig von Flecken gesäubert. In der rechten Ecke der Bühne standen sie zusammen, eine ratlose Herde, die nur wußte: Unser neuer Hirte hat uns gerufen. Was soll nun geschehen?
Abukow betrat die Halle III mit klopfendem Herzen. Er trug sein weißes Hemd und den schwarzen Anzug, und Mustai hatte gesagt: »Völlig verändert siehst du aus. Ein richtiges feines Herrchen. Ja, so haben sie in der Oper gesessen, wo die dusselige Lungenkranke sich zu Tode gesungen hat. Eine Verbeugung muß man vor dir machen … wirklich!«
Hinter Abukow betrat die Tschakowskaja den Saal. In einem hochgeschlossenen, blauen, engen Seidenkleid. Hinreißend sah sie aus, wie einem Gemälde entsprungen. Aber als sie in die Halle trat und zum Podium ging, spürte jeder, wie stumme Abwehr ihr entgegenschlug.
Professor Polewoi löste sich aus der Gruppe in der Bühnenecke und kam Larissa und Abukow bis zu der seitlichen fünfstufigen Treppe entgegen, die auf das Podium führte.
»Wir sind vollzählig, Victor Juwanowitsch«, sagte er. »Fünf Brüder liegen im Hospital und sind gehunfähig.« Er stockte, warf einen kurzen Blick auf die Tschakowskaja und fügte dann leiser hinzu: »Deine Gemeinde wartet auf dich, Väterchen …«
Abukow umarmte ihn, drückte ihn an sich und stieg dann die Treppe hinauf. Als er auf den Brettern stand, löste sich die Gruppe der Männer auf. Sie kamen auf ihn zu, einzeln, einer hinter dem anderen, senkten stumm den Kopf, ergriffen Abukows Hand und küßten sie.
»Meine Brüder«, sagte Abukow, als der letzte ihn begrüßt hatte. »Die Zeit der Stille und der Nacht, der Einsamkeit und der Hoffnungslosigkeit möge nun vorbei sein. Ich bin gekommen, um Pjotrs Werk weiterzuführen dank der Kraft, die von Gott kommt. Blickt euch um: Ein Anfang ist gemacht. Das hier wird unsere Kirche sein. Wir werden beten und singen und Gottes Wort hören. Wir werden neue Kinder Gottes taufen und den Sterbenden die letzten Sakramente reichen. Die Beichte wird zu euch kommen und die Vergebung eurer kleinen Sünden. Ein Fels im brandenden Meer der Verfolgung werden wir sein, und ein Licht wird uns leuchten in allem Elend und allem Schmerz. Danket dem Herrn für diese unendliche Gnade. Lasset uns beten …«
Er faltete die Hände, und die vierundvierzig verhungerten, knochigen, hohläugigen Männer sanken auf die Knie, falteten ebenfalls die Hände und senkten tief die Köpfe. Polewoi schielte aus den Augenwinkeln zu Larissa Dawidowna. Auch sie war in die Knie gegangen, neben Abukow, hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen.
»O Herr«, sagte Abukow mit fester Stimme. »Wir danken dir. Segne unsere Gemeinschaft, und gib uns Kraft für alles, was noch kommen mag. Laß uns nicht verzagen, wenn wir meinen, es geht nicht mehr, das Ende sei gekommen. Auch du, Jesus, bist in Gethsemane verzweifelt, aber am Kreuz hast du die ganze Menschheit erlöst. Gib uns einen winzigen Teil deiner Kraft, und wir werden auch Sibirien überleben und diesen fürchterlichen Abschnitt unseres Lebens. Gott im Himmel, blick hernieder auf uns. Wir brauchen dich wie keiner auf dieser Welt.«
Unbemerkt, da alle die Köpfe gesenkt hielten, waren Jachjajew und Rassim in die Halle gekommen. Entgeistert, sprachlos starrten sie auf die Bühne, auf die knienden Männer und auf die Tschakowskaja mit ihren gefalteten Händen. Selbst Rassim brauchte ein paar Atemzüge, bis er Jachjajew in die Seite stieß. Der kleine Dicke zuckte heftig zusammen.
»Träume ich?« knurrte Rassim dumpf. »Die knien und beten, und das schwarze Luder mittendrin! Und Abukow macht den Vorsänger. Ja, was ist das denn?«
Jachjajew zog den Kopf in die Schultern und rannte vorn zur Bühne. Jetzt erst hörte Abukow ihn, drehte sich um und behielt die Hände gefaltet.
»Victor Juwanowitsch!« stotterte Jachjajew fassungslos. Schweiß rann über sein
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