Ein Kreuz in Sibirien
feindselige Augen an. Eng zusammengedrängt standen die Leute, eine geballte, zerlumpte Masse Gegenwehr. Eine geballte Faust aus Menschenleibern, die sich ihm entgegenstreckte.
Abukow nickte ihnen zu, faltete die Hände, aber sie folgten ihm nicht. In stummer Abwehr rührten sie sich nicht.
»Aus Tjumen habe ich außer Musikinstrumenten und Stoffen auch die ersten Textbücher mitgebracht«, sagte er etwas beklommen. »Sie reichen natürlich nicht. Sobald wir wissen, was wir als erstes spielen werden, und wenn wir die Darsteller ausgesucht haben, werden wir die Texte abschreiben müssen. Wir sind eine Gemeinschaft und werden alle gemeinsam entscheiden, was wir spielen. Ich kann nur Vorschläge machen. Viel Auswahl haben wir nicht.«
»Es genügt!« sagte einer aus der Menge. »Spielen wir: Die Nächte des Priesters.«
»Oder: Ein Bett in Sibirien!« rief ein anderer aus der Mitte.
»Wie wäre es mit: Unvergessener Pjotr?« sagte Polewoi aggressiv. Die Gemeinde murmelte zustimmend.
Abukow legte den Packen der Textbücher auf einen der von Bataschew gestohlenen Sessel und trat unter die zurückweichenden Männer. Früher hätten sie seine Hand geküßt, jetzt mieden sie ihn, als habe er die Krätze.
»Wir alle sind Menschen und damit Sünder«, sagte Abukow , und seine Stimme war etwas hohl geworden. »Wie vermessen ist es, euch Sünder zu nennen, ich weiß es, und wenn einer unter euch ist, der sein Gewissen belastet hat – hundertfach ist ihm vergeben worden durch die Qual, die er heute erleidet. Wie leicht, denkt ihr, kann er so etwas sagen. Er hat satt zu essen. Das weite Land ist seins. In einem weichen Bett schläft er. In einen Laden kann er gehen und kaufen, wozu seine Rubel reichen. Er kann ein Hemd tragen, das ihm gefällt. Und wenn ihm danach ist, kann er Urlaub nehmen und sich am Sandstrand des Schwarzen Meeres in die Sonne legen. Wie gut kann er dann reden zu denen, die im Elend vegetieren, die in Lumpen gehen, aus verbeulten Schüsseln ihre Wassersuppe löffeln und das Stückchen Brot hundertmal im Mund drehen, bevor sie es hinunterschlucken, weil es dann aufquillt und ihnen die Illusion des Sattseins schenkt. Welch große Worte für die, die zehn Stunden in den Sümpfen wühlen oder in der Taiga die Bäume fällen …«
»… und die am Abend nicht in weiße Arme kriechen können!« rief einer aus der finsteren Gemeinschaft.
»Ich habe Gott angefleht, mich am Tage der Rechnung zu bestrafen wie den niedrigsten Sünder«, sagte Abukow langsam und faltete wieder die Hände. »Auf Erden muß ich um Eure Gnade bitten. Freiwillig bin ich zu euch gekommen, um bei euch zu sein und bei euch zu bleiben für immer.«
»Für immer?« fragte Polewoi rauh. »Was heißt für immer, Victor Juwanowitsch ?«
»Für immer heißt: Mein ganzes Leben lang. Ihr, meine Brüder im Elend, seid dieses Leben. Ich will euch helfen, und ich werde euch helfen. Mit all der Kraft, die Gott mir geben kann. Lasset uns beten …«
Mit langem Blick sah er seine Gemeinde an. Und zögernd, einer nach dem anderen, falteten sie die Hände, senkten die Häupter und warteten auf seine weiteren Worte. Zuletzt waren es Polewoi und der Schriftsteller Arikin – sie rangen mit sich, man sah es, und Abukow ließ ihnen die Zeit, mit sich ins reine zu kommen.
»Herr im Himmel«, sagte er dann leise. »Wir sind Deine Menschen. Du hast uns erschaffen mit allem Guten und allen Fehlern, allem Trotz und aller Schwachheit, aller Sehnsucht und aller Schuld. Nimm uns so hin, wie wir sind, aber wisse, Herr: Dein ist das Reich, in das wir einmal kommen und selig sein werden. Wir sehnen uns nach dem Glanz Deiner Gnade. Aber der Weg dahin ist steinig; strafe nicht den, der dabei stolpert, denn immer, überall bist Du bei uns. – Amen.«
Abukow verteilte anschließend die Textbücher. Drei Schneider übernahmen es, den Vorhang zu nähen. Zwei Techniker wurden beauftragt, unter Mithilfe eines der von Bataschew gestohlenen Elektromotoren den Vorhangzug zu konstruieren. Drei Musiker bekamen die Noten, um aus den Klavierstimmen eine Partitur für kleines Orchester zu arrangieren. Es gab kein Zögern, keine Widerrede, und Abukow war unendlich glücklich.
»Nur ein Waffenstillstand ist es«, sagte später Professor Polewoi warnend zu ihm. »Täusche dich nicht, Väterchen.«
Am späten Abend entschloß sich Abukow , noch bei Jachjajew vorbeizugehen. Bei Gribow saßen Mustai , Bataschew und Nina Pawlowna um den runden Tisch, verspeisten ukrainische
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