Ein Kreuz in Sibirien
holländischen Vlissingen , der sich zum Häftling machen ließ, um unter den lebenden Toten zu predigen. Wie unvorstellbar mühsam und schmerzhaft war das gewesen: tagsüber, zehn Stunden lang, die Arbeit in den Wäldern, an der Trasse der Erdgasleitung, in den Sümpfen, an den Flüssen und an den Seen – und abends heimlich die Gebete und Gottesdienste in einer Barackenecke, hinter dem Benzintonnenlager, am Holzplatz, in der Schreinerei; wenn es nicht anders ging, sogar auf der Latrine, wo man nebeneinander hockte, die Hosen über die Beine heruntergestreift.
Polewoi hatte ihm das erzählt, voll Ehrfurcht und Liebe zu dem toten Pjotr. Und Abukow war bei seinem letzten Besuch im Lager hinüber zu dem flachen Friedhof gegangen, den man aus dem Wald gehauen hatte und auf dem es kein Kreuz gab, keine Tafel – nur flache, kaum sichtbare Hügel, die andeuteten: Hier ruht endlich ein armer, geschundener, zerbrochener Mensch.
»Hier!« hatte Polewoi gesagt und auf eine Stelle gezeigt, die sich von den anderen nicht unterschied. »Hier liegt Pjotr. Gott sei ihm gnädig.«
Während Polewoi nach allen Seiten sicherte, hatte Abukow an diesem erbärmlichen Grab gebetet und gesagt: »Bruder Pjotr, gib mir nur einen Tropfen deiner Kraft, dann wird es gelingen. Nie werde ich sein können wie du, aber mein Bestes will ich geben, das sei versprochen. Gottes Wort wird auch hier in der Taiga niemals mehr verstummen …«
Da war jetzt plötzlich ein Laut irgendwo in dem Theatergebäude – Abukow schreckte hoch, richtete sich lauschend auf in dem Sofa, erhob sich und sah sich um. Weil das trübe Licht der einzelnen Birne, die von der Bühnendecke herabbaumelte, nicht weit reichte, konnte er kaum etwas erkennen. Dunkel lag die weite Halle mit den halbfertigen Sitzbänken und den herumliegenden zugeschnittenen Balken und Brettern.
»Ist da jemand?« rief er in das Halbdunkel hinein.
Er fuhr herum, denn ein neuer Laut kam aus der Gegend hinter seinem Rücken. Jetzt erschien neben Bataschews Küchenschrank Larissa Dawidowna und blieb nach zwei Schritten in den mageren Lichtkreis stehen. Ihre Uniform trug sie, als wolle sie ausgehen. In stummer Abwehr vergrub Abukow beide Hände in den Hosentaschen.
»Victor!« sagte die Tschakowskaja leise. Ihre Stimme bemühte sich, fest zu bleiben, aber im Nachklang blieb doch ein Zittern. »Ich bin gekommen, um dich zu holen.«
»Wohin?« fragte Abukow knapp.
»Zu mir … Soll ich auf die Knie fallen und um Verzeihung bitten?«
»Man kniet nur vor Gott.«
»Was soll ich tun, sag es mir doch! Schlag mich, wenn man damit alles wegwischen kann … schlag mich, solange du willst … oder soll ich aus deinem Leben für immer verschwinden? Ist es das, was du dir wünschst?«
»Geh zurück in dein Zimmer«, sagte er heiser. »Bitte!«
»Ein schneller Tod ist es, ein kurzer Schmerz, und du bist erlöst.« Es war jetzt fast ein Singen, wenn sie sprach. »Erlöst von mir … Nur so ist es möglich, denn solange ich lebe, gehörst du mir. Was sonst könnte uns trennen, Victorenka ? Du kannst nicht sagen: Geh weg! Du kannst dich nicht umdrehen und sagen: Es gibt dich nicht mehr! Du kannst nicht durch mich hindurchsehen wie durch Glas. Nur das vollkommene Ende gibt es für uns.«
Sie kam näher zu ihm, streckte den Arm nach ihm aus, aber berührte ihn nicht. »Sag mir: Ich liebe dich nicht. Geh weg, ich hasse dich. Sag mir: Dein Anblick ekelt mich. Nie habe ich dich geliebt, nur deinen Körper wollte ich.«
»Sei still!« stöhnte Abukow auf und ballte die Fäuste. »Sei doch still!«
»Du liebst mich.«
»Ja!« sagte er voller Qual. »Ja! Ja! Ja! Aber ich will es nicht!«
»Wir werden nie mehr sein wie früher, wir können nicht zurück«, sagte sie stockend. »Auch wenn wir voreinander fliehen wollen, laufen wir uns entgegen. Es gibt keinen Ausweg für solch eine Liebe. Victorenka … es ist schon spät … meine Tür ist offen.«
Er hörte, wie sie wegging. Ihre Stiefel knarrten über die Bühnenbretter. Er stand da, die Hände trotzig in den Taschen, und starrte in die Dunkelheit. Irgendwo im Finstern klappte eine Tür.
Nein! sagte Abukow hart zu sich. Nein!
Es war schon Mitternacht, als er mit gesenktem Kopf den Flur im Hospital hinunterging, die Klinke von Larissas Tür niederdrückte und die dunkle Wohnung betrat.
Sie wartete auf ihn, rückte eng an die Wand und machte ihm Platz in dem schmalen Bett.
Keine andere Wahl blieb Abukow, als erneut zu Jachjajew zu gehen. Er mußte ihm
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