Ein Kuss und Schluss
Ärztin zu John. »Hat es irgendwas mit der zertrümmerten Nase des Kerls zu tun?«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Soll ich es mir mal ansehen? Es könnte eine Orbitalfraktur sein. Wenn ich Ihr Gesicht röntge ...«
»Nein, alles in Ordnung. Haben Sie vielleicht eine Rolle Heftpflaster?«
»Ah ... ja. Klar.« Die Frau ging ins Hinterzimmer und kehrte mit einer Rolle zurück, die sie John reichte.
»Was dagegen, wenn ich die mitnehme?«, fragte er.
»Nein.«
John nahm Renee am Arm und führte sie wieder zu seinem Wagen.
»Tja«, sagte sie so lässig, wie es ihr in dieser Situation möglich war, »dann vermute ich, dass du mich jetzt nach Tolosa bringen wirst.«
Er antwortete nicht, was sie als ein Ja interpretierte.
Als sie seinen Wagen erreichten, zog er Renees Arme vor und legte die Handgelenke übereinander. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er ihre Hände vier- oder fünfmal mit dem Klebeband umwickelt.
»Was machst du da?«, fragte sie entsetzt.
»Ich habe keine Handschellen dabei«, sagte er, riss den Pflasterstreifen ab und drückte das lose Ende fest. »Und ich möchte kein Risiko eingehen.«
Renee blickte auf ihre gefesselten Handgelenke, und mit einem Schlag wurde ihr bewusst, in welcher Lage sie sich befand. Wie konnte es nur dazu kommen, fragte sie sich zum vielleicht tausendsten Mal. Wie war sie schon wieder auf die falsche Seite des Gesetzes geraten, nachdem sie alles dafür gegeben hatte, zu einem Menschen zu werden, der sich nie wegen der Polizei Sorgen machen musste?
Als Teenager hatte sie sich überhaupt nicht gedemütigt gefühlt, als man sie ins Gefängnis gebracht hatte. Ihre Hauptreaktion war Trotz gewesen, gepaart mit dem hoffnungslosen Gefühl, dass sowieso alles egal war, weil es auch allen anderen Leuten egal war. Die Schmach, die sie jetzt empfand, hing mit der Selbstachtung zusammen, die sie seitdem dazugewonnen hatte. Ein philosophisch veranlagter Mensch hätte möglicherweise gesagt, dass ihre Empfindung der Schmach ein Schritt in die richtige Richtung war.
Sie wünschte sich, sie könnte John von den Jahren erzählen, die sie damit verbracht hatte, ihre Vergangenheit zu überwinden. Wie sie erniedrigende Jobs ohne Aufstiegsmöglichkeiten erduldet hatte, nur um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Wie sie sich schließlich ein eigenes Leben eingerichtet hatte, auf das sie stolz sein konnte, nur um zu erleben, wie es plötzlich in tausend Scherben zerbrach.
Sie hatte den Mann hinter der Polizeimarke kennen gelernt. Den Mann mit einem großen Herzen. Den Mann, der voller Mitgefühl gewesen war, als er geglaubt hatte, dass sie misshandelt wurde, der sogar auf Leandro losgegangen war, weil er befürchtet hatte, sie könnte erneut von ihm geschlagen werden. Das war der Mann, mit dem sie jetzt gerne gesprochen hätte.
Langsam löste sich ihr Blick von der Fessel, und sie sah John in die Augen. Doch darin erkannte sie, dass sein Ausdruck des Zorns einer gefühllosen, steinernen Miene gewichen war. Er hatte die Lippen zusammengepresst, seine Augen waren kalt und ausdruckslos, und sie wusste, was das bedeutete. Von nun an würde sie ihn nur noch von einer Seite erleben - von seiner Polizistenseite.
Sie hob die Hände. »Bitte tu das nicht. Bitte. Ich werde mich ruhig verhalten. Ich verspreche es.«
»Willst du mir noch mehr Lügen erzählen?«
»Aber, John ...«
»Willst du einen Pflasterstreifen über den Mund?«
»Nein, aber ...«
»Dann schlage ich vor, dass du ihn geschlossen hältst.«
Er öffnete die Beifahrertür und schubste sie auf den Vordersitz. Dabei drückte er ihren Kopf herunter, damit sie nicht anstieß, und schlug die Tür hinter ihr zu. Sie lehnte sich zurück und spürte, wie ihr Herz in einem erbarmungslos treibenden Rhythmus schlug.
»Zuerst fahren wir zur Hütte, weil ich meine Sachen holen will«, sagte John. »Dann geht es nonstop nach Tolosa.«
Seine Worte hallten wie unerbittliche Schicksalsschläge in ihrem Kopf nach, und am harten, kompromisslosen Ausdruck seines Gesichts erkannte sie, dass er sich unter keinen Umständen von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. Er wollte sie im Gefängnis abliefern, ihr dann den Rücken zukehren und aus ihrem Leben verschwinden, in der festen Überzeugung, dass er einen Beitrag geleistet hatte, eine notorische Verbrecherin hinter Schloss und Riegel zu bringen. Man würde sie durch das juristische System schleusen, bis sie schließlich in einer Strafanstalt landete, zu einem Leben in
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