Ein Kuss unter dem Mistelzweig
durch ein Megaphon. Räucherstäbchen, die bei einer Marktbude in der Nähe abbrannten, hüllten sie in eine dicke Patschuli-Wolke.
»Hier ist es viel lauter als zu Hause, nicht wahr, Mum?«, fragte Zak, schaute zu ihr hoch und krallte sich an seine Rucksackriemen.
Sie waren am Morgen mit dem Zug angekommen, und der erste Halt war das Krankenhaus im Herzen Londons gewesen, in dem sie Bea abgesetzt hatten.
»Sie ist hier in guten Händen«, erklärte Dr. Patel, eine ruhige, bedächtige Ärztin in den Vierzigern. »Ich kümmere mich um sie und werde die Untersuchungen leiten.« Rachel und Milly halfen Bea dabei auszupacken und sich einzurichten. Zak reichte Bea eines seiner Bücher, einen Abenteuerroman, der eine Geschichte voller Drachen und glühend heißer Vulkane versprach. Sie legte es höflich zu dem Stapel mit den Reisememoiren neben ihrem Bett. »Vielen Dank, Zak«, sagte Bea. »Darauf freue ich mich schon.« Milly beugte sich vor, um ihre Großmutter sanft zu umarmen. »Ich hoffe, dir geht es bald schon wieder gut!«
»Mir geht es jetzt schon besser«, erwiderte Bea und wischte alle Ängste beiseite. »Macht euch um mich bitte keine Sorgen.«
Die U -Bahn war verwirrend gewesen – Zak musste gerettet werden, als sich die Ticketschranke schloss und sein Rucksack dabei eingeklemmt wurde. Doch endlich waren sie in Brixton angekommen, und laut Lauries Beschreibung waren sie jetzt nur noch einen kurzen Fußweg von ihrer Wohnung entfernt. Die größeren Gepäckstücke hatten sie bei Aiden gelassen, damit dieser sie mit dem Auto herfuhr, sodass sie nun alle nur eine kleine Reisetasche zu tragen hatten.
»Na gut, Kinder«, ergriff Rachel das Wort. Gemeinsam traten sie auf den Zebrastreifen, doch gerade, als sie hinübergehen wollten, schoss ein Radfahrer an ihnen vorbei, sodass sie gezwungen waren zurückzuweichen. Als sie einen Moment später wieder losgehen wollten, hupte ein weißer Van, und der Fahrer brüllte etwas Unverständliches aus dem Fenster. Verängstigt und unsicher schaute Zak zu Rachel hoch. »Vielleicht sollten wir doch lieber an der Ampel die Straße überqueren«, überlegte Rachel und steuerte auf die Ampel zu, in der Hoffnung, die richtige Richtung erwischt zu haben.
»Ich hab’s«, rief Milly und zeigte Rachel ihr iPhone. Neugierig starrte diese auf den kleinen blauen Punkt, der sich fortbewegte, während auch sie dies taten. »Wir sind hier im Zentrum von London«, erklärte Milly und ahmte die Stimme eines forschen Reiseführers nach. »Und zu Ihrer Linken beachten Sie bitte die örtlichen Highlights – TopShop, H & M und New Look.« Rachel musste grinsen, als ihre Tochter fortfuhr. »Dahinter sehen Sie die bekannte Brixton Academy sowie die Windermere Road, in der die bedeutende Modedesignerin Laurie Greenaway wohnt und sich die Feriendomizile der Reichen und der Berühmten befinden – und das der Familie Murray!«
»Seht mal – ein Fuchs!«, rief Zak, drückte Rachels Hand und deutete auf ein räudiges Tier mit einem buschigen Schwanz, das ein paar Meter von ihnen entfernt an einem Burgerpapier von KFC schnüffelte.
Die Straße war nicht ganz so, wie Rachel es erwartet hätte. Sie überprüfte die Adresse noch einmal – Windermere Road – doch, das stimmte. Diese breite Straße mit den hohen viktorianischen Reihenhäusern, den blattlosen, knorrigen Platanen, die beide Straßenseiten säumten, sowie den Mülleimern, Müllsäcken und Recyclingkisten, die sich an den Straßenrändern stapelten, passte so überhaupt nicht zu Laurie. Auch die Häuser waren zwar groß, dafür aber umso schäbiger, außerdem lagen sie permanent im Schatten.
Rachel holte tief Luft, danach gingen sie weiter. Milly las währenddessen die Hausnummern laut vor. »Dreiunddreißig … Einunddreißig … Zak, sieh dir bloß mal all die Fahrräder an!«, rief Milly plötzlich und stupste ihren kleinen Bruder an, als sie an einem Haus vorbeikamen, vor dem eine handgeschriebene Kreidetafel stand. Reggaemusik lärmte aus einer Box, die in der offenen Tür stand. »Bikeman Bill – Fahrräder – alle Reparaturen«, stand auf dem Schild. Ein Mann mit ergrauten Dreadlocks und einer Rasta-Strickmütze kniete im Türrahmen und reparierte eine Fahrradkette, während seine Kunden, ein Teenager mit einem verbeulten BMX -Rad und eine Frau im Anzug mit ihrem Brompton-Faltrad, auf dem Gehsteig warteten. Andere Räder füllten den Vorgarten, alte und verrostete Drahtesel genauso wie schöne, neue, glänzende
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