Ein Kuss unter dem Mistelzweig
bevor er seinen regennassen Mantel auszog. »Ich habe dann ein Auge auf die Lage hier.«
Er drehte sich zu Siobhan und Jay um. »Was so viel bedeutet wie: Ich kollabiere vor dem Fernseher, aber wenn es brennen sollte oder Einbrecher kommen, könnte ich immer noch ganz nützlich sein«, erklärte er hinter vorgehaltener Hand. »Mach schon, Rachel«, nickte er. »Du solltest wirklich mitgehen.«
»Bist du sicher?«, fragte Rachel. »Obwohl im Augenblick so viel los ist …?«
»Glaubst du wirklich, Mum würde wollen, dass wir nur zu Hause herumsitzen und Trübsal blasen? Solange die Untersuchungsergebnisse nicht da sind, können wir ohnehin nichts tun. Los, geh aus. Du könntest eine kleine Ablenkung wirklich vertragen.«
»Okay«, erwiderte Rachel zögerlich. »Siobhan, würde es dir etwas ausmachen, hier kurz auf mich zu warten, bis ich mich umgezogen habe?«
»Siobhan und Rachel«, erklärte Siobhan dem Mann am Eingang des Pubs. »Wir stehen auf Jays Gästeliste.« Der Mann schaute auf sein Klemmbrett und drückte ihnen dann einen Stempel aufs Handgelenkt. Neugierig betrachtete Rachel den schwarzen, verschmierten Fleck. »Geht das auch wieder ab?«, fragte sie. Siobhan lächelte, packte ihre Hand und ging mit Rachel die Treppe zum Veranstaltungsort hinunter.
Bevor sie die Wohnung verlassen hatten, war Siobhan Zeuge geworden, wie Rachel ein graues Strickoberteil und eine cremefarbene Strickjacke aus ihrem Koffer geholt hatte. Entsetzt hatte Siobhan mit der Hand gewedelt und war schnurstracks zu Lauries Kleiderschrank gelaufen.
»Hier.« Sie hatte Rachel ein langärmeliges schwarzes, mit Spitze verziertes Kleid mit einem goldfarbenen Futter gereicht. »Und dazu die hier … Schuhgröße 5 ist richtig?«, hatte Siobhan gefragt und ein Paar schwarze Lederstiefel in Rachels Richtung geworfen. Sie hatten höhere Absätze, als Rachel es gewohnt war. Schnell hatte sie sich das Kleid übergezogen und sich vor dem Spiegel gedreht, um sich von allen Seiten begutachten zu können. »Gar nicht mal schlecht«, hatte Siobhan geurteilt und ihr eine winzige, altgoldfarbene Handtasche mit einem schmalen Schulterriemen in die Hand gedrückt, die den Look abrundete.
Als Rachel nun den Musikkeller betrat, wurde ihr plötzlich klar, wie aufgebrezelt sie war.
»Na? Was willst du trinken?«, fragte Siobhan mit einem verruchten Lächeln. »Und nein, ein Radler kommt mir heute Abend nicht ins Glas.«
»Ich weiß nicht, ich lasse mich überraschen«, erwiderte Rachel.
Siobhan besorgte ihnen beiden einen Jack Daniel’s on the rocks; Rachel zuckte bei ihrem ersten Schluck Whiskey zusammen. Sie schaute sich in der ungewohnten Umgebung um und schlussfolgerte, dass sie umso schneller wieder nach Hause gehen könnte, je schneller sie den Drink hinunterkippte. Eine Mischung aus Teenagern und älteren Männern stand an der Bar, alle schrien einander an, um die Musik zu übertönen. Schauten die sie etwa alle an? Rachel fühlte sich unwohl und zappelte herum.
»Mach dir keine Gedanken um die Leute.« Siobhan drückte ihr den Arm, als könne sie Gedanken lesen. »Du wirst Jays Band vergöttern.«
Als die Vorband fertig war, hatte Rachel bereits zwei Drinks getrunken – Siobhan hatte ihr leeres Jack-Daniel’s-Glas durch ein volles ersetzt, bevor Rachel dagegen protestieren konnte. Das Publikum kam langsam in Stimmung, und Rachel war überrascht, dass auch sie sich allmählich entspannte.
Nach einer kleinen Pause kam Jay auf die Bühne, und Siobhan klammerte sich an Rachels Arm fest. Harley nahm hinter dem Schlagzeug Platz, der Bassist legte los, und Amber sang mit bittersüßer Stimme eine raue, heiße Version von »Santa Baby« an. Die düstere Musik verschärfte das, was ein honigsüßer Song hätte sein können, sodass Rachel eine ordentliche Gänsehaut bekam. Siobhan drehte sich zu ihr um und stupste sie in die Seite. »Siehst du!«, gestikulierte sie.
Danach zog das Tempo ziemlich an. Jays Band stimmte einen souligen Rocksong nach dem anderen an; die Menge war dankbar und wollte immer mehr. Siobhan griff nach Rachels Hand, und die beiden fingen an, in dem dichten Gedränge zu tanzen. Als Rachel in ihren kniehohen Stiefeln und in Lauries bezauberndem Kleid in Siobhans lachende Miene schaute, spürte sie etwas, das sie schon seit Jahren nicht mehr empfunden hatte: Sie fühlte sich frei. Und als der Bassist sie über die Köpfe des Publikums hinweg anschaute, konnte sie nicht anders, als ihn anzulächeln.
Nach der zweiten Zugabe
Weitere Kostenlose Bücher