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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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begriff, was sie damit sagen wollte. Zischend sog Angelica die Luft durch die Zähne, hob beide Hände, als wollte sie den Teufel abwehren.
    Lina hatte die meiste Zeit gedankenverloren in ihrem Kaffee gerührt. »Also, um es auf den Punkt zu bringen«, sagte sie unvermittelt und streckte einen Finger hoch, »ich habe eine Scheißangst, wenn Marius die Nacht hindurch operiert, was häufig genug ist, und ich allein mit den Kindern im Haus bin, ich habe auch eine Scheißangst«, der zweite Finger erschien, »wenn ich allein nachts im Auto unterwegs bin, weiterhin habe ich eine Scheißangst«, sie hielt drei Finger hoch, wie zum Schwur, »meine Kinder aus den Augen zu lassen. Von meinen vieren sind ja drei noch unter fünfzehn. In Europa habe ich Kinder auf der Straße gesehen, kleine Kinder, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, die mutterseelenallein auf den Bürgersteigen spielten, junge Mädchen, die allein im Dunklen zur Disco gingen. Es war Sommer, alles fuhr mit geöffneten Fenstern oder in Cabrios, Frauen gingen allein in den Parks spazieren – das nenne ich Freiheit.« Sie saß da, die Hände in den langen, dunkelbraunen Haaren vergraben, ein leerer Ausdruck in ihren Augen, als sähe sie etwas, was den anderen verborgen war. »Was hält uns hier eigentlich, wenn wir ständig in Angst leben müssen? Denkt ihr manchmal ans Auswandern?«
    Die Freundinnen vermieden, einander anzusehen. Jill legte die Hand auf ihren Bauch, fühlte ihre Tochter, die mit einer zarten Bewegung reagierte, und die Angst um ihr Kind, um sich, um ihre Zukunft in ihrem Land traf sie wie ein Faustschlag.
    Endlich war es Angelica, die die Erstarrung durchbrach. »Es ist doch ganz einfach, ich bin hier geboren, meine Kinder sind hier geboren, meine Familie lebt hier seit hundertfünfzig Jahren, wo sollte ich hin? Ich gehöre zu dem Stamm der weißen Afrikaner, hier ist meine Heimat, und hier bleibe ich.« Ihre flache Hand knallte auf den Tisch.
    »Amen«, hatte Lina dann gesagt.
    »Amen«, murmelte Jill jetzt, stieß sich von der Wand ab, um wieder hineinzugehen.
    »Guten Abend, Ma’m, geht es Ihnen gut?«, sagte eine Stimme neben ihr, und sie machte einen erschrockenen Satz, obwohl sie zur gleichen Zeit Jonas’ hochgewachsene Figur erkannte. Sein weißes T-Shirt und die khakifarbene Hose leuchteten in der Dunkelheit.
    »Jonas, meinte Güte, hast du mich erschreckt«, rief sie laut und vergaß, sich nach seinem Wohlergehen zu erkundigen.
    »Mir geht es auch gut«, sagte dieser trotzdem, einer eingefahrenen Mechanik folgend.
    Sie wartete. Es war offensichtlich, dass er ein Anliegen hatte.
    »Unsere Arbeitsgruppe will eine Studienreise nach Europa machen, um die Brücken der großen Meister zu studieren. Ich brauche Geld, ich habe alles aufgelistet.« Er reichte ihr einen Zettel.
    Er verlangte es, er bat nicht. Ärger flammte sekundenschnell in ihr hoch. Es war typisch. Schon als halbwüchsiger Schuljunge war er mit Stapeln von Schulbüchern bei ihrer Mutter erschienen, hatte sie vor ihr abgesetzt, nicht sanft, er hatte sie hingeworfen. »Madam muss Papierumschläge drummachen«, verkündete er.
    Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter hatte zwischen Empörung und Belustigung geschwankt. »Jonas, nimm die Bücher sofort wieder mit. Ich kaufe dir Papier, aber einschlagen musst du sie selbst.«
    Er hatte seine Unterlippe vorgeschoben und sich den Stapel Bücher unter den Arm geklemmt. Mit steifem Rücken und hochgezogenen Schultern stakste er über den Hof, trat ein paar Steine aus dem Weg. Einer schlug mit lautem Knall gegen eine Tonne mit Dünger.
    »Was bildet er sich eigentlich ein?«, hatte sich Carlotta ihrem Mann gegenüber empört. »Eine Frechheit, dieses Benehmen.«
    »So sind sie nun einmal«, hatte er kommentiert, »Jonas handelt nur nach dem Hierarchieverständnis seiner Leute. Dadurch, dass wir uns um ihn kümmern, nehmen wir Elternstelle ein. Außerdem weißt du ja, wo du da als Frau angesiedelt bist«, hatte er sie geneckt.
    Jill gab ihm die Liste zurück. »Du musst mit meinem Vater sprechen, aber jetzt ist kein guter Zeitpunkt, komm morgen wieder«, sagte sie kühl, »und such dir einen Nebenjob, dann kannst du dir Geld für Extras dazuverdienen.« Sie drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte ins Haus. Jahre auf einer guten Schule, ein Universitätsstudium, Privilegien, von denen seine Freunde nur träumen konnten! Nun gut, sollte sich ihr Vater mit ihm auseinander setzen. »Jonas will dich sprechen, Dad«, sagte sie, als sie

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