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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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sie schon beerdigt? Ich muss sie doch auf diesem Weg begleiten. Ich muss mich verabschieden.«
    Etwas in ihren Augen veranlasste den Arzt, die Spritze sinken zu lassen. »Föten werden nicht beerdigt, sie werden wie amputierte Gliedmaßen verbrannt …« Er machte eine hilflose Geste.
    »Amputiert …?«, stotterte sie, ihr Widerstand kam ins Wanken, und in diesem Moment gab der Arzt ihr doch die Spritze, und sie schlief wieder ein.
    *
    Ihre Mutter fand man nicht. Nicht einmal das Flugzeug wurde aufgespürt. Am Tag nach dem Absturz durchwühlte ein Orkan den Meeresboden, schob Sandgebirge auf, legte Felsformationen frei, veränderte die Unterwasserlandschaft vollkommen. Tagelang suchten Hubschrauber, Militärschiffe und Taucher die Gewässer südlich von Durban bis nach East London ab. Nichts. Kein Ölfleck, keine Wrackteile. Sie dehnten die Suche bis nach Richardsbay im Norden aus, obwohl es völlig außerhalb der Route der Impala lag. Wieder nichts. Es war, als hätte die Hölle das Flugzeug verschlungen.
    Irma, die sofort nach dem Unglück nach Durban gefahren war, half ihr, wich nicht von ihrer Seite. An einem feuchtwarmen, windstillen Tag, drei Wochen nach dem Absturz fuhren alle Angehörigen der vermissten Passagiere und Crewmitglieder auf einem Marineküstenboot hinaus aufs Meer. Genau zu der Stunde und in dem Koordinatenkreuz, wo die SAA IMPALA sich befunden haben musste, als sie vom Radarschirm des Durbaner Towers verschwunden war, drehten sie bei. Es wurde eine kurze ökumenische Andacht gehalten, und jeder der Trauernden warf etwas ins Meer, Blumen, Kränze, kleine Gegenstände.
    Jill, die sich nur mit Martins und Irmas Hilfe auf dem schaukelnden Schiff auf ihren Krücken halten konnte, schickte ihrer Mutter die Querflöte ins Grab, hörte über dem Rauschen der Wellen die tanzenden Töne, die Mama ihr entlockt hatte, sah sie in ihrem leuchtend blauen Kaftan auf ihrem Platz in der Weite der afrikanischen Landschaft sitzen, erinnerte sich, wie glücklich sie dort gewesen war, und brach endlich zusammen, konnte endlich weinen.
    Ihr Vater, der neben ihnen an der Reling stand, sah aus, als wäre er zu grauem Stein erstarrt.
    Nach der Trauerfeier bat er Irma, Martin und sie zu sich und teilte ihnen mit monotoner Stimme, die ihm nicht zu gehören schien, mit, dass er Inqaba ihnen überlassen und nach Europa gehen würde. »Irgendwo nach Südfrankreich vielleicht, man wird sehen«, sagte er und hielt Jill lange stumm im Arm. Seine Hände fühlten sich merkwürdig leblos an. Kalt, klamm, ohne Kraft. Auch jetzt durchbrach keine Gefühlsregung seine Oberfläche. »Ihr werdet schon zurechtkommen.«
    »Warum?«, fragte sie ihn ein paar Mal. »Was wollte sie in dem Flugzeug, sie hatte doch Angst vorm Fliegen, sie ist doch nirgendwo ohne dich hingegangen … Sie muss doch etwas gesagt haben, als sie ging … bitte, Daddy!«
    Er aber schüttelte nur den Kopf, senkte den Blick, schüttelte wieder den Kopf, wandte sich ab. Eine Antwort bekam sie nicht. Es war, als hätte er alle Worte verloren.
    Als die heiße Zeit vorbei war und sie es ertragen konnte, wählte sie einen Platz neben den Gräbern von Catherine und Johann und allen anderen Steinachs, die im Laufe der Zeit dort ihre Ruhe gefunden hatten, pflanzte prächtige Hibiskussträucher und einen rosa Tibouchina, der im Februar blühen würde. Zur selben Zeit, wie ihre Tochter geboren worden wäre. Sie verbrachte lange Stunden am leeren Grab von Christina.

9
    S o kehrte Jill mit Martin an den Ort ihrer Zuflucht zurück. Irma begleitete sie. Das Unglück hatte auch sie deutlich gezeichnet. Ihre sprühende Lebhaftigkeit war verschwunden, sie war still geworden. Sie verlor stark an Gewicht, ihre Haut wurde fahl und faltig. Doch sie fand die Kraft, Jill aufzufangen. Sie übernahm weitgehend die Aufgaben ihrer Cousine Carlotta, zog die schleifenden Zügel im Haushalt wieder an. Sie wurde zum ruhenden Pol der Familie.
    Jill träumte fast jede Nacht von ihrer Mutter. Von ihr und Christina, zerriss sich innerlich vor Schuldgefühlen, war überzeugt, dass sie ihre Tochter hätte retten können.
    »Steh auf, Juliane, du kannst es, hilf ihr, sieh, ich helfe dir«, rief ihre Mutter im Traum wieder und wieder und streckte ihr die Hand hin.
    Und wieder und wieder versuchte sie sich zu bewegen, die Hand zu ergreifen, und schaffte es nicht. Sie sah das Gesichtchen Christinas, den winzigen Rosenknospenmund, die schwarzen Haare, den milchig blauen Glimmer zwischen den

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