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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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zusammengekniffenen Lidern, hörte ihre Schreie, aber schaffte es nicht. »Wir haben sie amputiert«, sagte der Arzt dann in ihrem Traum, und sie wachte schreiend auf.
    Sie nahm ab, zog sich in ihr Innerstes zurück, es war, als wäre ein Licht in ihr ausgelöscht worden. Martin und sie redeten weniger miteinander als sonst, beide bewegten sich vorsichtig, keiner berührte den Tod ihres Kindes mit Worten. So konnte sich das Schuldgefühl, das auf ihr lastete, ungehindert entwickeln. Nur einmal fragte sie ihn, als sie nachts mal wieder wach lagen. »Du hast sie doch richtig gesehen – ich möchte so gern wissen, wie sie aussah …« Ihre Stimme versickerte.
    Für eine Ewigkeit kam keine Antwort. »Sie hatte sechs Zehen an jedem Füßchen«, flüsterte er dann, »wie alle Bernitts.«
    »Bernitts?«, erwiderte sie erstaunt. »Die Steinachs werden mit sechs Zehen geboren. Sieh«, sie streckte ihm ihren Fuß hin, bog den kleinen Zeh zurück, »da saß er, sie haben ihn mir nach der Geburt entfernt.«
    »Eigenartig«, murmelte er, schon fast eingeschlafen, »sechs Zehen haben wir Bernitts auch.«
    Am nächsten Morgen erinnerte sie sich an diese Unterhaltung nur dunkel. Sie war ja auch nicht wichtig. Der verletzte Nerv im Rückgrat erholte sich, ihr Bein heilte. Mit regelmäßigen Übungen baute sie seine Muskeln wieder auf. Es wurde kräftiger, aber ihr Gang hatte sich verändert.
    »Jill, was ist mit dir, schmerzt dein Bein?«, fragte sie Irma. »Du gehst so schleppend. Da scheint etwas nicht in Ordnung zu sein, du solltest zum Arzt gehen.« Irma, ganz in fließendes Schwarz gekleidet, flatterte um sie herum wie eine besorgte Glucke.
    Jill schüttelte stumm den Kopf, in ihren Augen spiegelte sich das Dunkel ihrer Seele wider. Natürlich war etwas nicht in Ordnung. Die Last, die ihr das Leben aufgebürdet hatte, wog zu schwer. Es war nichts, was der Arzt mit einer Spritze heilen konnte. Sie war allein mit dieser brennenden Leere in ihrem Inneren, konnte nicht weinen, nicht schlafen, nicht essen. Im Spiegel sah sie eine Frau mit fahler Haut, die dunklen Haare durch die Luftfeuchtigkeit wirr und unordentlich, die mit hängenden Schultern daherschlurfte. Es war ihr gleich. Sie wandte sich einfach ab.
    Sie verließ kaum ihre unmittelbare Umgebung, einmal nur raffte sie sich auf, fuhr zu Mamas Platz. Schon von der Biegung aus entdeckte sie, dass schon jemand dort saß. Für Sekunden glaubte sie, es wäre ihre Mutter. Ihr Herz blieb fast stehen. Dann erkannte sie, dass es Irma war. Ihr erster Impuls war, einfach umzudrehen, Mamas Platz wollte sie mit niemandem teilen. Doch dann sah sie, dass Irma weinte. Es war das erste Mal, dass sie ihre Tante weinen sah. Beschämt stellte sie fest, bisher nicht daran gedacht zu haben, wie Irma unter dem Tod ihrer Cousine, zu der sie das innige Verhältnis einer Schwester gehabt hatte, leiden musste. Zu sehr war sie mit ihrem eigenen Verlust beschäftigt. Sie fuhr hinauf zur Kuppe, parkte, knallte laut mit der Tür, um ihrer Tante Zeit zu geben, sich zu fassen.
    Irma sah auf, ihr Augen-Make-up, das sie stets großzügig auftrug, war verschmiert, die Tränensäcke waren geschwollen. Nässe glänzte auf der Haut. Sie erhob sich vom Korbsessel, streckte Jill beide Arme entgegen und zog sie an sich. Lange standen sie so, schwiegen gemeinsam. »Ich vermisse sie so sehr.« Irmas Stimme schwankte. »Als meine Eltern starben, bin ich bei deinen Großeltern aufgewachsen, und Carlotta wurde meine kleine Schwester. Ich hatte sonst niemanden.«
    »Weißt du, was passiert ist? Warum ist Mama in das Flugzeug gestiegen? Sie war doch auf dem Weg zu dir«, traute sich Jill zu fragen, »Dad hat mir keine Antwort gegeben. Mama hatte Höhenangst, außerdem eine derartige Flugangst, dass schon der Anblick eines Flugzeuges bei ihr kalte Schweißausbrüche hervorrief. Sie konnte einen Flug nur mit Beruhigungsmitteln überstehen. Außerdem ist sie noch nie ohne Daddy geflogen. Da stimmt doch was nicht. Bitte, wenn du es weißt, sag es mir. Ich habe ein Recht, es zu wissen.«
    Irma wischte sich die Augen. »Hat Phillip gar nichts gesagt, auch keine Andeutung gemacht?«
    Jill schüttelte den Kopf. »Mama auch nicht. Mein Telefon war das ganze Wochenende gestört, und ich habe es nicht gewusst. Vielleicht hat sie versucht, mich zu erreichen. Nächste Woche wollte ich mir endlich ein Handy kaufen«, setzte sie mit kläglicher Stimme hinzu.
    Irma warf ihr einen kurzen Blick zu. »Er hat sie betrogen.«
    »Betrogen?«,

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