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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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kündigte den Abend an. Es roch feucht, Baumfrösche sangen ihr eintöniges Lied, die Brandung donnerte in ihren Ohren. Die Flut muss hoch sein, dachte sie. Wie lange sie hier lag und wie sie hierher gelangt war, konnte sie beim besten Willen nicht erinnern. Sie zog ihr linkes Bein an und stand auf, fand dann zu ihrem maßlosen Erstaunen, dass sie sich überhaupt nicht gerührt hatte. Der Befehl wurde von ihrem Kopf ausgesandt, aber ihre Muskeln weigerten sich, ihn auszuführen. Sie stemmte ihren Oberkörper mit den Armen ein paar Zentimeter hoch. Ein heißer Schmerz explodierte in ihrem Oberschenkel, schoss bis in die Hüfte zur Wirbelsäule, und sie fiel mit einem Aufschrei zurück. Eine Gigantenfaust presste ihren Unterleib zusammen, krampfartiges Zittern, begleitet von Kälteschauern, lief in Wellen durch ihren Körper. Selbst die schwache Bewegung ihrer Atemzüge war Agonie. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie merkte, dass das nicht nur von dem verletzten Bein herrühren konnte.
    Mit der rechten Hand tastete sie an ihrem Bein herunter und griff in etwas Feuchtes, Körperwarmes, Glitschiges. Ihr Bein? Mühsam hob sie den Kopf und schaute zwischen ihre Beine.
    Als sie begriff, was sie sah, schrie sie.
    Sie schrie und schrie und schrie. Das Letzte, was sie sah, war ein winziges Puppengesicht mit zusammengekniffenen Augen und verklebten schwarzen Haaren, das Letzte, was sie hörte, war Schreien, aber sie erkannte ihre eigene Stimme nicht. Sie war sich sicher, dass es ihre Tochter war, die da um Hilfe schrie.
    *
    Die Büsche verdeckten sie, ihre Hilferufe wurden von der Brandung übertönt, so dass erst Dary, ihr Dobermann, den Martin in seiner Verzweiflung von Inqaba geholt hatte, um sie zu suchen, sie Stunden später aufstöberte. Sie wusste nichts davon, Martin erzählte ihr das viel später. Ihre Erinnerung setzte erst wieder einen Tag nach der Operation ein, bei der ihr mehrfach gebrochener Oberschenkel gerichtet worden war und der eingeklemmte Nerv im Rückgrat befreit. Vergeblich versuchte sie, einen Fetzen dieses Albtraums zu erfassen, der sie hierher gebracht hatte. Jedes Mal, wenn eine Ahnung in ihr hochkroch, erschien jemand in einem weißen Kittel, gab ihr eine Spritze, und sie versank wieder in watteweicher Weiße.
    Fünf Tage nach dem Unfall kämpfte sie sich durch die Watte an die Oberfläche und schob ihren Arzt zur Seite, verhinderte, dass er ihr eine weitere Beruhigungsspritze gab. »Ich will meinen Mann sprechen«, verlangte sie, und als Martin an ihrem Bett stand, sah sie ihn an. »Bitte sag’s mir«, bat sie.
    Er nickte und nahm ihre Hand und sagte ihr, dass ihr Baby den Treppensturz nicht überlebt hatte und dass ihre Mutter tatsächlich in das Flugzeug gestiegen war. Die Hand, die ihre hielt, war eiskalt und schweißnass.
    »Wo ist Christina? Ich will zu ihr.«
    »Das geht nicht!« Der Satz explodierte aus Martins Mund.
    »Ich muss! Ich muss sie wenigstens noch einmal sehen, ich muss ihr erklären, was passiert ist. Warum ich ihr nicht helfen konnte.«
    »Man hat den Fötus in die Pathologie gebracht«, sagte die kühle, professionelle Stimme des Arztes hinter ihr.
    »Den Fötus.« Wen meinte er? Christina? »Das ist kein Fötus, das ist meine Tochter«, schrie sie, »und ich will sie sehen!«
    »Ich würde es nicht empfehlen.« Wieder die körperlose Stimme des Arztes.
    »Warum nicht?«
    Der Arzt räusperte sich, sagte aber nichts, und eine eisige Ahnung packte ihr Herz. Flehentlich sah sie Martin an. »Versteh doch, ich hab ihr nicht geholfen … ich muss …« Sie wartete einen Moment, aber ihre Stimme gehorchte nicht richtig. »Bitte.«
    Martin packte den Arzt am Arm und zog ihn zur Tür. Vehement redete er auf den Mann im weißen Kittel ein.
    »Wir müssen sie auf Inqaba beerdigen«, flüsterte sie. Es kostete sie ungeheure Kraft, diese Worte herauszupressen.
    Beide Männer wandten sich ihr zu, keiner antwortete ihr. Dann drückte der Arzt auf den Klingelknopf neben ihrem Bett, wartete am Fenster, bis eine Schwester erschien. Leise gab er ihr einen kurzen Befehl. Sie verließ den Raum im Laufschritt und kehrte sofort wieder zurück. Er nahm eine Spritze aus der Schale, die sie ihm reichte, zog eine Flüssigkeit auf und trat an ihr Bett.
    »Nein!«, schrie sie und schlug seine Hand zur Seite. »Ich will wissen, wo sie ist! Ich will sie sehen!«
    »Liebling …« Martin wollte sie in den Arm nehmen, aber sie schob ihn weg.
    »Keiner rührt mich an! Was habt ihr mit Christina gemacht? Ist

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